„Ich bin eine wandelnde Identitätskrise.“

13. Juli 2015

Der langjährige Nahost-Korrespondent Karim El-Gawhary über seine persönliche Identitätskrise, die Arroganz in der Flüchtlingspolitik und warum Tunesien ein Hoffnungsschimmer für die EU sein sollte.

Von: Delna Antia

Karim El-Gawhary
Foto: Privat

BIBER: Herr El-Gawhary, Sie schreiben gerade an einem Buch: „Fluchtgeschichten“. Eine Geschichte handelt von der syrischen Mutter Soha, die mit einem Flüchtlingsschiff nachts nicht weit von der ägyptischen Küste kentert. Soha trägt als einzige eine Schwimmweste. Ihre 4 Töchter zwischen 3-11 Jahren klammern sich an ihr fest.  Doch 5 Menschen sind zu viel für die Weste. Soha muss sich entscheiden: Welches ihrer Kinder soll sie loslassen? Das kann sie nicht. So gehen nach und nach drei ihrer Kinder unter und sterben, bis Soha mit ihrer ältesten Tochter gerettet wird. Was bewirken solche Geschichten, wenn Sie sie erzählen – z.B. bei Vorträgen oder TV-Diskussionen?

KARIM EL-GAWHARY: Eine solche Geschichte schafft Verständnis für die Leute, die auf der Flucht sind. Nachher sage ich dann: Und jetzt liebe Österreicher, denkt einmal über die Gnade eures Geburtsortes nach. Darüber, dass es reiner Zufall ist, dass ihr in Wien geboren worden seid. Ihr könntet genauso gut in Aleppo, Mosul oder Damaskus geboren worden sein und müsstet euch eines Nachts entscheiden, welches eurer Kinder ihr loslasst. Solche Geschichten, so glaube ich, sind das beste Rezept gegen Überheblichkeit, Indifferenz und Arroganz.

Sind wir arrogant?

Ständig beim Flüchtlingsthema! Man versetzt sich überhaupt nicht in die Lage des anderen hinein, sondern macht nur Bestandsverteidigung. Ich will, dass mein Leben so weitergeht und dass mich dabei keiner stört. Aber vogelstraußmäßig den Kopf in den Sand stecken und hoffen, dass alles vorübergeht, funktioniert nicht. Die Flüchtlinge werden so oder so kommen. Der Grad der Verzweiflung auf der anderen Seite ist so groß, dass sie immer Mittel und Wege finden werden. Das muss man zur Kenntnis nehmen und mit diesem Problem umgehen.

Wie?

Auf verschiedenen Ebenen. Natürlich muss man die Quellen des Problems ausschalten. Das wäre zum Beispiel der Syrienkrieg. Aber das ist die schwierigste Ebene, auch weil der europäische Einfluss begrenzt ist. Die zweite Ebene betrifft die Nachbarländer - und da können wir schon viel mehr tun. 95% der Flüchtlinge leben in den Nachbarländern. Im Libanon ist jeder Vierte ein syrischer Flüchtling. Umgerechnet auf Österreich hieße das 2 Millionen Flüchtlinge! Man muss diesen Ländern also massiv helfen. Wir haben 500.000 schulpflichtige syrische Kinder im Libanon, 322.000 davon gehen nicht zur Schule. Weil es nicht genug Mittel und Geld gibt. Aber das ist die Generation, die dieses Land irgendwann wieder aufbauen soll. Diese Investition müssen wir tätigen – wenn wir nicht wollen, dass alle hier rüberkommen. Aber was passiert?! Die Mittel werden immer mehr gekürzt.

Wie erleben Sie die österreichische Flüchtlingspolitik?

Was ich sehr interessant in Österreich finde, ist, dass auf einer unteren Ebene unglaublich viel Hilfsbereitschaft vorhanden ist. Für meine Buchrecherche war ich in Großraming, einem Dorf mit 3500 Einwohnern. Dort haben sie 50 Flüchtlinge aufgenommen, ohne jegliche politische Unterstützung - toll! Das Problem ist die politische Ebene darüber. Ich erwarte von Politikern, dass sie dieses Problem nicht nur verwalten, sondern dass sie Visionen entwickeln, wie sie mit diesem Problem umgehen.

Wie gehen Sie persönlich mit den Geschichten, die sie hören, um?

Natürlich sind sie belastend. Meistens sehe ich die Menschen, die mir ihre Geschichte erzählen und anvertrauen, nie wieder. Und meistens kann ich gar nichts für sie machen. Sagt man einfach „Vielen Dank für das Gespräch“, wenn einem eine furchtbare Geschichte erzählt wird? Da ist es natürlich die beste Therapie, diese Geschichten weiter zu erzählen. Wenn ich die Erlebnisse der letzten Jahre nur in mich reingefressen hätte, wäre ich jetzt sicher in einem anderen Zustand.

Sie sind in München geboren und haben in Berlin studiert. Wie war das mit dem „Migrationshintergrund“ für Sie?

Ich habe das Gefühl, eine wandelnde Identitätskrise zu sein. In Deutschland wurde ich gefragt, warum ich so gut Deutsch spreche, später in Ägypten, warum ich so komisch Arabisch spreche. Ich habe nirgends richtig dazu gehört. Mit einer deutschen Mutter und einem ägyptischen Vater - würden Sie sich als Mischling bezeichnen? Bastard! (lacht) Ich find das gut, mit den „neuen Österreichern“ bei Biber. Nur wann ist man nicht mehr neu? Es werden ja Leute in der zweiten und dritten Generation immer noch mit dem Migrationshintergrund betitelt. Ich bin die zweite Generation, meine Kinder sind die dritte. Wo hört das Ganze auf?

Karim El-Gawhary
Foto: Boris Grdanoski

Wie verlief ihre „Identitätskrise“?

Mit 15 Jahren begann ich die arabische Welt für mich zu entdecken. Von zu Hause aus konnte ich kein Arabisch, ich habe es erst gelernt und studiert. Als ich dann nach Ägypten ging, wollte ich zu 150 Prozent Ägypter sein. Da schlug die Identitätskrise voll auf eine Seite. Aber das hat natürlich überhaupt nicht funktioniert. Für die war ich immer der Exot. Genauso wie ich es immer auf der anderen Seite war. Aber irgendwann versuchst du, damit Frieden zu schließen. Das hat viele Jahre gedauert. Wie? Indem ich mir sage, dass es okay ist, nirgends richtig dazu zu gehören. Denn ich bin nicht der Einzige, dem es so geht. Es ist sogar etwas, das dir einen Vorteil verschafft. Mach was draus, habe ich mir gedacht! Es ist sicher kein Zufall, dass ich da gelandet bin, wo ich gelandet bin. Bei meinen Kindern erlebe ich das Gleiche. Meine Tochter wuchs in Ägypten auf bis sie 17 war und hat am Ende alles Ägyptische gehasst. Jetzt lebt sie seit 1,5 Jahren in den USA, hat eine riesige ägyptische Flagge über ihrem Bett hängen und verkauft sich bei den Amerikanern als die Ägypterin. Da sieht man, wie sich Geschichte wiederholt.

Sie leiten das ORF-Büro in Kairo. Wie geht es den jungen Leuten in Ägypten?

Ich glaube, dass viele enttäuscht sind. Sie hatten gehofft, dass sich mit der Revolution auf dem Tahrir-Platz am 25. Januar 2011 etwas ändert. Doch die enttäuschte Hoffnung nach dem Sturz Mubaraks, nun die Enttäuschung über die angehenden Entwicklungen, führen zu einem politischen Frust. Der zeigt sich etwa in der Verweigerung wählen zu gehen.

Auf Facebook haben Sie sich kritisch gegenüber dem Besuch von Außenminister Sebastian Kurz bei Präsident Al-Sisi im Mai in Kairo geäußert. Was stört Sie?

Es ist ja nicht nur Österreich, das gleiche passiert auch in Deutschland, wenn Al-Sisi demnächst Berlin besucht. Hier wird immer die gleiche, politische Strategie verfolgt. Man will Gesprächskanäle offen halten, um Menschenrechtsverletzungen zu vermeiden und im Dialog zu bleiben. Doch hatte dieser Dialog jemals einen Effekt? Nein. Das andere Argument ist, dass man in diesen Regimevertretern Bollwerke gegen den IS sieht.

Sie sagen oft: Das größte Exportgut der EU in den arabischen Raum sind junge Dschihadisten. Warum ist der IS für europäische Jugendliche so attraktiv?

Es ist das Ergebnis permanenter Ausgrenzung. Identität wird ja von außen bestimmt. Wenn ich in Europa in der zweiten und dritten Generation nicht als Europäer, Österreicher oder Deutscher wahrgenommen werde, sondern immer noch als Muslim und zusätzlich als potenzielle Gefahr, ziehe ich mir diesen Schuh irgendwann auch wirklich an. Wenn der Dschihad für Jugendliche attraktiv ist, obwohl sie mitten in Europa aufgewachsen sind, dann hat das sehr viel mit vollkommen gescheiterter Integrationspolitik zu tun. Wo sehen Sie Hoffnungshorizonte? Tunesien ist für mich ein Hoffnungshorizont, wobei wir auch hier nicht wissen, wie es ausgeht. Der andere Lichtblick ist: Ich glaube nicht, dass Repression nachhaltig funktioniert – auf Dauer. Irgendwann müssen auch diese Systeme etwas liefern, wie etwa in Ägypten. Kurzfristig bin ich sehr pessimistisch, langfristig dann wieder nicht. Die Zeit dieser autokratischen Regimes ist abgelaufen. Die Frage ist, wie blutig und wie lang es dauern wird.

 

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