All das, wegen einer Zeichnung?

30. Oktober 2020

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Nada
(C)Zoe Opratko

Seit dem Anschlag auf Charlie Hebdo im Jahr 2015 hat sich scheinbar nichts verändert. Warum wir ein Recht auf Mohamed-Karikaturen brauchen.

Kommentar von Nada El-Azar

Samuel Paty überließ seinen Schülerinnen und Schülern die Entscheidung, nicht hinzusehen, als er seiner Klasse die Mohamed-Karikaturen des Satireblatts Charlie Hebdo zeigte. Quasi eine Art Triggerwarnung, die nichts brachte, wie sich herausstellen sollte. Am 16. Oktober wurde er enthauptet im Ort Conflans-Sainte-Honorine aufgefunden. Paty wurde nur 47 Jahre alt, weil er sich „entschloss, seinen Schülern zu lehren, zu Bürgern zu werden“, wie der französische Präsident Emmanuel Macron in seiner Rede bei der Trauerfeier zu Ehren des Lehrers sagte. Nachdem Charlie Hebdo die Mohamed-Karikaturen erneut abdruckte, wurde klar: Seit dem Terroranschlag auf die Redaktion 2015 hat sich praktisch nichts verändert. In mehreren muslimischen Ländern wird die Fahne Frankreichs demonstrativ verbrannt, es wird zum Boykott französischer Produkte aufgerufen. Und dann gibt es noch den Streit zwischen Erdogan und Macron. Erst kürzlich wurden in Nizza im Zuge der Debatte drei Menschen in einer Kirche getötet, eine Frau wurde sogar nahezu enthauptet, ähnlich wie Paty. Nur wenige Tage zuvor erstach ein Islamist in Dresden zwei Männer.

Islam vs. Islamismus – was nun?

Emmanuel Macron verteidigt Charlie Hebdo und wird nun dafür verteufelt, endlich Farbe zu bekennen und zu handeln. Und das leider auch von linker und linksliberaler Seite. Ein Kolumnist der Taz schreibt, dass Macron „einen Mord an einem Lehrer zu einer Grundsatzfrage aufbausche“. Seit dem Terroranschlag auf Charlie Hebdo, bei dem allein schon zwölf Menschen starben, sah sich Frankreich mit zahlreichen islamistisch-motivierten Anschlägen mit hunderten Verletzten und Toten konfrontiert – die Ermordung Samuel Patys ist im Jahr 2020 schon der fünfte Terrorakt dieser Art. Genug ist genug. Wir dürfen nicht vergessen: Wo Macron nicht handelt, könnte eines Tages Marine le Pen ansetzen. Hat sich schon einmal jemand gefragt, warum nach der Ermordung von George Floyd in den USA mehr als 50.000 Menschen in Wien auf die Straße gingen, um ein Zeichen gegen Rassismus zu setzen? Wo bleibt der Aufschrei, wenn ein Lehrer in Frankreich von einem 18-Jährigen brutal enthauptet wird, und das – milde gesagt – wegen einer blöden Zeichnung? Sicherlich könnte man mir vorwerfen, dass ich zwei verschiedene Probleme gegeneinander ausspielen würde. Das lenkt aber offen gestanden nur vom Thema ab. Genauso wie das häufig angebrachte Argument, dass es nicht den „einen Islam“ gäbe und Islamismus, beziehungsweise politischer Islam, nichts mit dem „richtigen“, „friedlichen“, Islam zu tun hätten. Die Wahrheit ist aber simpel: Es gibt keinen unpolitischen Islam. Grundlage des Islam ist der Koran, in dem Regeln für das Zusammenleben, Finanzen und Rollenaufteilung in der Familie festgelegt sind. Und auch Islamisten berufen sich auf den Koran. Deshalb ist die Trennung von Islam und Islamismus eine Taktik, die nicht länger zieht. Kritik am Koran ist aber ein Ding der Unmöglichkeit geworden, da dieser als direktes Wort Allahs gesehen wird und daher als unantastbar gilt.

Viel Lärm um nichts

Auch ich war lange genug in einer großen linken Jugendorganisation Mitglied, um zu wissen, dass Religionskritik eine linke Basispraxis ist. Der Islam wird aber von der heimischen Linken bislang nur mit Samthandschuhen angefasst. Innerhalb der muslimischen Community macht man sich sichtbar, indem man die Mohamed-Karikaturen als schlichtweg rassistisch, provokativ und beleidigend abstempelt. Das entspricht genau der scheinbaren Maxime „Ich bin empört, also bin ich“, die sich über die letzten Jahre im linksliberalen Milieu etabliert hat. Die öffentliche Debatte wird mitunter dahingehend gelenkt, dass die Kunstfreiheit ihre Grenzen habe, und die Karikaturen eindeutig zu weit gingen. Hallo? Wir sprechen hier, wie gesagt, von einer Zeichnung. Nicht umsonst hat Charlie Hebdo beim Wiederdruck getitelt „Tout ça, pour ça“ – Viel Lärm um nichts. Es geht nicht um die Frage, ob Meinungsfreiheit gleich Beleidigungsfreiheit bedeute. Inwiefern rechtfertigt man damit, dass unschuldige Menschen auf so archaische und barbarische Weise umgebracht wurden?

„Du musst echt aufpassen.“

Meine Familie und Freunde warnen mich regelmäßig davor, „schlecht“ über den Islam zu schreiben – aus Angst, dass mich jemand womöglich mit einem Messer, oder ätzender Säure attackieren, oder schlimmstenfalls eine Fatwa über mich verhängt würde, und jeder Gläubige dann das Recht hätte, mich zu töten, wo er auf mich trifft. Warum hinterfragt niemand diese absurde Gewaltbereitschaft, die offensichtlich der Grund für diese Befürchtungen ist? Das ist keine Realität, die ich für mich akzeptieren will. An diesen Gedanken werde ich täglich erinnert, wenn ich durch eine Sicherheitstür zu meinem Schreibtisch gehe, die es nur wegen dem Anschlag auf Charlie Hebdo gibt. Man muss in der Lage sein können, berechtigte Kritik am Islam und der Art und Weise, wie er gelebt wird, anbringen zu können, ohne als Rassist beschimpft, physisch angegriffen, oder bestenfalls ins rechte Eck gestellt zu werden. Meinungs- und Religionsfreiheit sind eine Errungenschaft, die es nur in einer säkularen, aufgeklärten Gesellschaft geben kann. Dies trägt aber die Überwindung von Religion mit sich, beziehungsweise die Trennung von Staat und Religion. Deshalb darf es Mohamed-Karikaturen geben. Das wird sehr vielen Leuten zwar nicht passen, aber es ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Denn in einem aufgeklärten Land können und dürfen religiöse Gefühle nicht das Ende der Debatte und die Legitimation von Gewalt sein.

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