Die Helden von Saltiwka

13. Mai 2022

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Photo by Timur Aliew and his team

In einem Instagram-Video sehe ich, wie in der U-Bahn-Station in Saltiwka, einem Stadtteil von Charkiw, die Panik ausbricht: Mehrere junge Männer verteilen Lebensmittelpakete und rufen „Ruhe bewahren!“. Jederzeit kann hier eine russische Rakete einschlagen. In einem anderen Video sieht man die Männer im Auto, auf einem Trip durch eine Geisterstadt: rundherum zerbombte Häuser, Panzer, Autos. Einer steigt aus, sprintet über eine Grünfläche zu einem Haus. „Nicht durch das Gras. Minen!“, ruft eine Stimme in die Smartphone-Kamera. Es ist Timurs Stimme. Er ist 24 und führt einen Instagram-Account mit fast 18 000 Abonnenten und dokumentiert seinen Kriegsalltag. Der frühere Rapper versorgt heute die Bewohner von Saltiwka mit langhaltbaren Lebensmitteln wie Nudeln, Medikamenten, Babyartikeln usw. Er und sein Team tauchen immer dort mit Hilfe auf, wohin sich niemand mehr freiwillig begibt: Saltiwka ist so ein Ort. Bis zur russischen Grenze sind es ca. 30 km. Kugelhagel und Sirenen stehen hier an der Tagesordnung.

Vom Boxer-Poeten zum Volontär

„Als ich gestern schlafen gehen wollte, war der Beschuss so laut, dass selbst ich überwältigt war. In der Nacht fliegen die Raketen … es ist wie bei einer Lotterie.“*, sagt mir Timur, während ich mit ihm über Zoom rede. Timurs Vater stammt aus Aserbaidschan. Er musste aufgrund des Kriegs im Karabach in den 90ern in die Ukraine flüchten, wo er Timurs Mutter kennenlernte. „Ich sehe mich selbst als Ukrainer. Ich werde mein Land nicht im Stich lassen.“, so Timur.

„Ich kann niemanden töten... Kämpfen passt einfach nicht zu mir... Ich schieße immer daneben.“, lacht Timur, als er auf meine Frage antwortet, ob er selbst kämpfe. Timur hat keine Angst vor dem Tod. „Ich glaube an Gott, wenn es unser Schicksal ist, werden wir zu Engeln. Der Krieg hat uns vieles gelehrt...hat uns gelehrt stark und mutig zu sein.“ Er ist Muslim, wie sein Vater. „Fast jeden Tag passieren hier bei uns im Krieg Wunder... etwas was uns dazu bringt, noch stärker an Gott zu glauben. Aber auch der Glaube an sich selbst, und das Gute in den anderen ist überlebenswichtig.“, so Timur.

„Die Russen haben meine Jugend gestohlen. Ich war ein Rapper. Aber nicht nur von mir, von vielen anderen auch. In zwei Monaten haben wir so viel erlebt, und so viele Antworten auf Lebensfragen bekommen, als hätten wir zehn Jahre gelebt. Viele sind alt geworden, vor meinen Augen.“ Timur macht sich Sorgen um die Zukunft der Kinder, denen er tagtäglich Spielzeuge, Essen, Süßigkeiten oder Windeln bringt. Vor allem die Kleinen sind es, die sich erstaunlich schnell an den Ausnahmezustand gewöhnen: „Wir waren heute in einer Gegend, wo viel geschossen wurde, und dort sehe ich drei Mädchen auf rosa Fahrrädern... die Mädchen hören das alles, aber sie beachten die Schüsse nicht mehr. Die Kinder haben keine Angst mehr. Das ist nicht gesund, wenn Kinder aufhören Angst zu haben. Das ist nicht normal. Jede Sekunde könnten sie sterben.“ Über seine Kontakte zu Bekannten in Russland sagt er: „Früher war ich mit der russischsprachigen Rap-Szene in Moskau vernetzt. Das ist nun vorbei.“ Jetzt wünscht er sich mit dem polnischen Rap-Superstar „Peja“ auf einer Bühne zu stehen. Krieg beeinflusst auch Musik, wie man an Timurs Beispiel sieht.

„Das Lächeln wird die Welt retten“

„Jeder fragt mich das“, schmunzelt Timur meine Frage weg, warum er denn immer lächle: „Das bin einfach ich... ich liebe es einfach zu lachen. Wenn ich nicht lächeln würde, wären alle traurig. Mein Lächeln hat schon vielen geholfen. Wenn die Leute in Kellern weinen, bringe ich sie zum Lachen. Auch wenn mich russische Soldaten gefangen nehmen, und mir eine Kalaschnikow vors Gesicht halten, ich werde trotzdem lachen.“  Er schließt nicht aus, dass man in Charkiw, in den Supermärkten irgendwann keine Produkte mehr bekommt. „Die Hungersnot hat schon angefangen. Wenn der Krieg nicht aufhört, erwartet uns eine grausame, tiefgehende Hungersnot. Aber wir sind nicht die einzigen.“ Er wirkt nachdenklich. „Hierher trauen sich die Leute nicht zu kommen. Die Lastwagen kommen nicht an.“ Und, wenn einmal Hilfe ankommt, muss Timur und sein Team die Güter außerhalb Saltiwka abholen. Die Spenden von großen Hilfsorganisationen werden bei der zentralen Post in Charkiw ausgeteilt, aber nicht jeder schafft den Weg dorthin und nicht überall funktioniert das Netz. Außerdem sind die Schlangen bei der Lebensmittelverteilung kilometerlang und vor Raketen nicht sicher. Team-Timur kauft Lebensmittel ein, und liefert sie direkt an die Adresse.

Über die Leute, die noch geblieben sind, sagt er: „Sie haben Angst, dass keiner sie in der EU will, dass keiner sie braucht. Die Reichsten sind zuerst ausgewandert. Nicht jeder hat die Möglichkeit irgendwo unterzukommen.“ Im Großen und Ganzen ist Timur aber froh, dass die Welt nicht die Augen vor den Menschen in der Ukraine verschließt, und, dass über den Krieg geredet wird. Dafür ist er dankbar. „Ein Wort kann vieles verändern. Meine Worte: Ukraine wird niemals (vor den Russen) in die Knie gehen, haben mein Leben verändert. „Hoffnung“ ist ein starkes Wort. Und „Glaube“. Je mehr Leute über diesen Krieg sprechen werden, desto schneller hört er auf.“

Timurs Team ist auf private Spenden angewiesen. Wenn du den Menschen in Saltiwka helfen möchtest, kannst du an folgendes Konto Spenden:

PayPal: Timuraliev988998@gmail.com

Wenn du mehr über Timurs Team erfahren möchtest:

https://www.instagram.com/shazaam__t1amo__/

 

*Das Interview wurde auf russisch geführt und sinngemäß von der Autorin übersetzt 

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