Ein Brief an meinen ersten Schultag.

08. September 2017

Kinder lernen ja bekanntlich schnell. Ich musste noch schneller lernen. Allein an meinem ersten Schultag waren es  schon drei wichtige Dinge. Erstens: In Österreich bekommen Kinder zur Einschulung Schultüten, aber weil deine polnischen Eltern nicht wissen, dass dem so ist, bekommst du keine. Zweitens: Du bekommst sie dann dafür am zweiten Schultag, was irgendwie eh auch okay ist. Drittens: Nur, weil du von deiner Lehrerin einen Namens-Stempel mit „Alexandra“ statt „Aleksandra“ drauf bekommst, bedeutet das nicht, dass du deinen eigenen Namen in den darauffolgenden fünf bis sieben Jahren falsch schreiben musst, weil es so cooler aussieht. Aber mal langsam:

Wieso sagt die „Schöne Woche, Ente?“

Ich bin im Sommer 1998 als sechsjähriges Kind nach Österreich gekommen, ohne ein Wort Deutsch zu können. An meinem ersten Schultag saßen wir Kinder in einem Kreis auf Polstern am Boden und die Lehrerin las uns aus einem Buch vor. Ich habe natürlich gar nichts verstanden, aber es schien lustig zu sein. Wenn die anderen Kinder gelacht haben, habe ich halt mitgelacht. Genau so, wie ich in den darauffolgenden Wochen die Kinder und die Lehrerin einfach immer angelächelt habe, wenn ich nicht verstand, was sie von mir wollten. Nach circa einem Monat war es dann so weit: Ich glaubte, die Kassiererin im Supermarkt endlich zu verstehen, als sie uns ein „Schönes Wochenende“ wünschte – nur dachte ich damals, sie sagt „Schöne Woche, Ente.“ Wenn du sechs Jahre alt bist, sind die logischen Zusammenhänge in deinem Gehirn nur auf deine eigene Art und Weise logisch. Was das mit Enten zu tun hat, habe ich nicht hinterfragt. Ich dachte, man sagt das einfach so. Aber hier endet auch schon die herzzerreißende Geschichte des Ausländerkindes, das sich schwer getan hat, sich im fremden Land zu integrieren und die Sprache zu lernen. Das war bei mir nämlich genau gar nicht der Fall. Ich hatte es nicht hart. Das mag für einige überheblich klingen, aber ich kann mir bis heute nicht erklären, wieso es Menschen gibt, die in Wien geboren sind, aber trotzdem keinen geraden deutschen Satz herausbringen. Ich weiß, es hängt vom Umfeld und von der Schule ab, aber ich habe beides erlebt und beides gelebt. In meiner Volksschulklasse waren fast nur Ausländerkinder, deren Deutsch teilweise sehr schlecht war. Im Gymnasium war ich dann fast die einzige, die nicht aus Österreich kam. Und beides davon war voll in Ordnung. Wahrscheinlich habe ich an dieser Stelle auch viel meiner damaligen Volksschullehrerin zu verdanken, die es geschafft hat, dass wir alle nach einem Jahr so gut wie fließend deutsch sprachen. Wie sie das zusammengebracht hat, wird mir für immer ein Rätsel bleiben. Dafür hat sie jedenfalls meinen größten Respekt. 

„Du kommst ja nicht von hier, wie sollst du denn auf Deutsch schreiben können“

An die Anfänge kann ich mich nicht mehr detailliert erinnern, es ist immerhin schon fast 20 Jahre her. Aber ich habe immer schon irrsinnig gerne Geschichten erzählt und eben geschrieben. Mein erstes (und bis jetzt einziges) Buch habe ich übrigens mit fünf verfasst, es hieß „Ein Dino macht Urlaub“, es hatte vier Seiten und ist bis heute nur in der polnischen Originalversion erhältlich, als Manuskript versteht sich. Aber als ich dann in der Schule gelernt habe, in welche Richtung man die Buchstaben setzt und dass man nicht aus den vier Linien pro Zeile im Heft herausfahren darf, ging es richtig los. Herausgefahren bin ich immer, meine Schrift gleicht auch mit 25 der eines Apothekers – aber der Inhalt war das, was ich so spannend fand. Die Tatsache, dass es so viele Synonyme und Ausdrücke für ein Wort gibt, und so viele Arten, um etwas zu beschreiben – das fasziniert mich bis heute. Ich wollte Schriftstellerin werden, aber diese Vorstellung wurde von außen irgendwie belächelt. Oft von polnischen Freunden meiner Eltern, oder seltsamen österreichischen Müttern meiner Schulkolleginnen, die mir mit „Du kommst ja nicht von hier, wie sollst du denn auf Deutsch schreiben können“ kamen. Deshalb wollte ich dann Hirte oder Detektiv werden, und später beides gleichzeitig. Aber das ist eine andere Story  - gut, dass ich meinem originalen Traum treu geblieben bin.

Der eiserne Vorhang ist in meinem Kopf damals noch nicht so aufgegangen

Als in der vierten Klasse Volksschule die Schularbeiten kamen, habe ich immer nur eine 1 bekommen, etwas anderes kam nicht in Frage. Anders war es in Mathe, ich war eines von diesen Opfern, die circa 11 Jahre lang Mathe-Nachhilfe hatten, aber bis heute nicht gerafft haben, was eine Kurvendiskussion ist oder wozu man das macht. Ich diskutiere sowieso lieber mit Menschen als mit Kurven. Ein Zirkel sieht für mich aus wie eine Mordwaffe, in einer Zombieapokalypse würde ich wahrscheinlich am ehesten als Keyboard-Warrior von Nutzen sein.  Apropos Keyboard: Ich habe mir damals, in der Volksschule, immer vorgestellt, dass ich, wenn ich mal groß bin, mit einer Katze am Schoß an meiner Schreibmaschine tippe und aus dem Fenster auf meinen Garten schaue. Stichwort Schreibmaschine: Der eiserne Vorhang ist in meinem Kopf damals sichtlich noch nicht so aufgegangen, aber kommt schon, es waren die Neunziger, Computer waren ein seltenes und neues Gut. Als ich älter wurde, wich die Schreibmaschine einer Carrie-Bradshaw-Illusion. Aber da ich in Wien keine Feuerwehrleiter zum Sitzen fand, meine Schildkröte nicht mal Pfötchen geben konnte und mein Leben mit 13 allgemein eher Sim City als Sex And The City war, musste der Traum noch ein wenig warten. 

Mein letzter erster Schultag naht.

Fast zwanzig Jahre nach meinem ersten Schultag habe ich immer noch keine Katze, aber die Schreibmaschine durch mein MacBook Air ersetzt und den Garten gegen einen Ausblick auf das Kunsthistorische Museum in Wien gewechselt. Guter Kompromiss. Was ich damit sagen will: Ich hatte in meinem Werdegang verdammt viel Glück, dessen bin ich mir vollkommen bewusst. Aber: Lasst euch nicht von irgendwem sagen, dass ihr etwas nicht könnt oder nicht machen sollt, nur, weil sich das irgendwer anderer nicht vorstellen kann. Aber wer weiß, vielleicht wäre ich auch ein toller Hirte geworden. Ich fange im Oktober übrigens meinen Master in Dolmetschen an – Da werde ich meinen voraussichtlich letzten ersten Schultag erleben. Diesmal hätte ich bitte gerne eine richtige Schultüte. Ich finde, ich habe sie mir endlich verdient. 

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