"Kurz hat gewonnen - das ist deine Chance!"

15. Oktober 2017

Endlich vorbei. Der schmutzigste und emotionalste Wahlkampf seit Langem hat einen klaren Sieger. Sebastian Kurz hat die richtigen Knöpfe gedrückt. Westbalkanroute, muslimische Kindergärten, Burka-Verbot. Der Mix war monothematisch, zog aber bei den Wählern. Vergessen waren die Versachlichungsversuche des 31-jährigen ÖVP-Spitzenkandidaten in der Integrationsdebatte, vergessen seine Versuche, an Credibility zu gewinnen, indem er seinen Heimatbezirk Wien-Meidling als Multi-Kulti-Ort deklarierte, vergessen die Tatsache, dass der Islam seit über 100 Jahren als Religion in Österreich anerkannt ist.

Als Biber-Redakteur der ersten Stunde lernte ich den damaligen Obmann der Jungen ÖVP in Wien erstmals am Telefon kennen. Kurz sollte an einer Spitzenrunde der Jugendvertreter im Vorfeld der Nationalratswahlen 2008 teilnehmen. Er war sehr höflich, sagte aber ab. Nur drei Jahre später wurde er zum Shootingstar der Politik. Kurz stieg zum Integrationsstaatssekretär auf. Damals entschied biber, den Meidlinger in einer Kebabbude zu fotografieren. Das Foto wurde Cover und wir bekamen viel Kritik ab. Wir würden einen unerfahrenen Quereinsteiger mit Schnöselbackground heroisieren und hypen. Intern wollten wir Kurz nach seinen Taten messen, die Witze von vielen Kollegen aus den Mainstream-Medien über seine großen Ohren fand ich nur peinlich und eines Journalisten nicht würdig. 

Als Magazin, das vor allem Leser mit Migrationsvorder- und-hintergründen hat, schauten wir ganz genau, was der "Staats-Integrator" für Aktionen setzte. Damals erfolgte auch meine Reise mit Kurz nach Sarajevo - nach der Jahrhundertflut im ehemaligen Bürgerkriegsland. Meine Tante aus Mostar war stolz auf mich. Ihr Neffe auf Pressereise zusammen mit Österreichs Außenminister. Gehts noch besser?


Dann die Wende: 2015 versucht mehr als eine Million Menschen über den "Westbalkan" (Ein Begriff, den Kurz mitprägte - als jemand, der in Mostar geboren ist, habe ich diese Bezeichnung nie gehört) zu flüchten. Die Zivilgesellschaft zeigt sich von ihrer besten Seite, Österreich legt das Image des Suderanten ab und hilft. Humanisten machen Freudenssprünge, vergessen war "Schwarz-Blau" am Anfang dieses Jahrtausends, das uns den Hypo-Skandal oder die Buwog-Affäre beschert hatte. Bis Kurz das Flüchtlingsthema für sich entdeckte und erfolgreich instrumentalisierte, Bosniens Hauptstadt Sarajevo zum Hort der Burka-Trägerinnen erhob und islamische Kindergärten für die Probleme unserer Gesellschaft verantwortlich machte. Das ist nicht nur falsch, sondern auch opportunistisch. Und das ist das Letzte, was ich mir von meinem zuküntigen Kanzler erwarte.

Ich habe kurz nach 18 Uhr am Wahlsonntag das erste Mal von dem Ergebnis erfahren. Und es war nicht der Standard-Ticker. Nein, es war meine Tante, die mir aus Mostar schrieb: "Kurz hat gewonnen, du kennst ihn ja, das ist deine Chance!" Nachdem ich ihr erklärt habe, dass ich Herrn Kurz - außer von Interviews - kaum kenne und diesen Ausgang nicht so rosig wie sie sehe, dachte ich mir leise: "Herr Kurz, das ist Ihre Chance - um mich und so viele andere enttäuschte Wähler davon zu überzeugen, dass Sie keine salonfähige Strache-Kopie sind. Es ist Ihre Chance für alle Frauen, Männer, Kinder, Jugendliche, Homosexuelle, Behinderte, Muslime, Christen, Atheisten (sorry, falls ich eine Gruppe ausgelassen habe) für eine bessere Zukunft zu sorgen und auch Inhaltliches in Fragen der Digitalisierung, Bildung und Arbeitsmarkt zu liefern.

Und kommen Sie mir ja nicht mit der Westbalkanroute.

 

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