Warum es falsch ist, das Foto von Aylan zu veröffentlichen

03. September 2015

Ein kleiner Junge liegt leblos am Strand. Er ist auf der Flucht nach Europa gestorben. Im ersten Moment wirkt Aylan gar nicht tot - bis man genauer hinsieht. Seine Augen sind geschlossen, er liegt auf dem Bauch und ist ein bisschen in den Sand gesunken. Als ich das Bild das erste Mal sehe, geht es mir genauso wie jedem anderen: Ich bin schockiert, traurig und enttäuscht. Ich muss automatisch an alle Kinder denken, die ich kenne und mir wird schlecht. Ich denke an all die Verstorbenen, die die Flucht nicht überlebt haben und der Kloß in meinem Hals wird immer größer.

Und dann werde ich wütend. Wütend auf all meine Facebook-Freunde, die dieses Foto geteilt haben. Wütend auf all die Medien, die von dem Foto Gebrauch gemacht haben. Als letzte Woche 71 Flüchtlinge in einem LKW gestorben sind und die Kronen Zeitung ein Foto von den Toten veröffentlicht hat, gab es ein medialen Aufschrei. Wieso scheint es jetzt plötzlich in Ordnung zu sein, das Foto von einem verstorbenen Jungen zu verwenden? Muss man ihm denn wirklich die letzte Würde nehmen?

Wenn Europa Aylan schon nicht die Möglichkeit gibt, sicher und legal einzureisen, so sollten wir ihm zumindest so viel Respekt entgegenbringen und sein Foto nicht im Internet verbreiten. Natürlich kann ich nachvollziehen, warum das getan wird: Man will wachrütteln, darauf aufmerksam machen. Aber reichen dafür nicht folgende Worte: Ein kleiner Junge ist auf der Flucht nach Europa gestorben. Wie abgestumpft muss unsere Gesellschaft sein, dass sie nicht die Nachricht über den Tod eines Kleinkinds schockiert und wachrüttelt, sondern erst das Foto, auf dem die Leiche des Kleinen zu sehen ist?! Halten FPÖ-Wähler und Flüchtlingsgegner erst jetzt ihren Mund und empfinden Mitleid?

Ein Schande ist das. Natürlich, man kann als Medium und Journalist argumentieren, dass es solche Bilder braucht, um festzuhalten, was passiert ist. Aber es widerspricht einfach meinem Verständnis von Menschenwürde, dass Aylan dafür missbraucht wird. Da kann ich durch und durch Journalistin sein - soweit würde ich nicht gehen. Der Gedanke, dass das Bild eines toten Kindes notwendig ist, um zu zeigen, wie verheerend die Folgen der derzeitigen Asylpolitik sind, schnürt mir den Magen zu.

Selbstverständlich weiß ich, dass Privatpersonen, die dieses Foto teilen, nichts Böses im Sinn haben. Sie sind betroffen und teilen ihre Betroffenheit über soziale Netzwerke mit. "Damit man es sich immer wieder ins Gedächtnis ruft", argumentiert eine Bekannte. Aber nein, einfach das Wissen, dass der Junge gestorben ist, muss reichen. Ich finde es schrecklich, dass wir Aylan dafür nutzen müssen, um zu zeigen, wie schlimm und gefährlich der Weg nach Europa ist. Das soll und muss klar sein - auch ohne Foto. Aylan war nicht der Erste und er wird auch nicht der Letzte sein, wenn sich nicht schnell etwas ändert. Das müsst ihr euch immer wieder ins Gedächtnis rufen - auch ohne Foto.

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