Wie viel Freiheit steckt eigentlich in der Religionsfreiheit?

11. Dezember 2017

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Quelle: pixabay

Im November wurde ich zu einer Lehrerfortbildung nach Amstetten eingeladen, um über das Thema Mädchen im Islam zu referieren. 17 katholische und evangelische Religions- und Klassenlehrer nahmen an der Diskussion teil, die unter dem Titel „Du bist ein Mädchen – Sei still!“ lief. Das Motto ist selbsterklärend und zeigt, um welche Themen die Veranstaltung kreist. Dem Islam eilt in diesen Fragen ein eher schwieriger Ruf voraus, was wahrscheinlich zu dem etwas drastischen Titel geführt hatte.

Daheim in Amstetten

Ursprünglich sprang ich für eine Kollegin ein, die terminlich verhindert war. Sie schlug mich als Referentin vor, da ich, wie auch sie, aus einer muslimischen Familie komme und die dort vorherrschenden Strukturen kenne. Die Gastgeberin Marlene P.* holte mich vom Bahnhof ab und trank mit mir in einem kleinen Bistro am Hauptplatz einen Kaffee. Die freundliche, fesche Mitsechzigerin und frischgebackene Pensionistin begann mit mir darüber zu sprechen, dass sich in Amstetten und den Orten in der Umgebung viele neue Familien mit türkischem oder arabischem Migrationshintergrund angesiedelt haben – sogar einige Moscheevereine wurden bereits gegründet und sind gut besucht. Marlene hatte sich erst vor ein paar Monaten aus ihrem Lehrberuf verabschiedet, organisiert aber noch gerne Fortbildungen für ihre Kollegen. Beim Spazieren auf der Straße bemerkte ich ein paar Aufsteller mit der Aufschrift „Menschen aus aller Welt daheim in Amstetten“. Kleine Steckbriefe von Leuten aus Tunesien oder Afghanistan waren darauf zu lesen.

Viele Lehrer aus den kleineren Orten finden sich in Schulklassen wieder, in denen plötzlich mehr als die Hälfte der Schüler Muslime sind, berichtete sie mir. Besonders die Mädchen hätten Probleme damit, sich in die Klassengemeinschaft zu integrieren, weil die Eltern bei ihnen in der Erziehung besonders streng sind. Hausarrest und Distanz zu ihren männlichen Mitschülern sind häufig der Fall. „Die Mädchen sind sehr intelligent und haben durchaus Träume wie Ärztin werden – aber es fehlt ihnen an Selbstvertrauen“, bedauerte die Gastgeberin.

Religion = Kultur?

Eine Stunde nach meiner Ankunft begrüßte ich die Lehrer in einem Seminarraum im Nebengebäude eines Pfarrheims. Das war für mich eine ziemlich komische Situation. An diesem Tag saßen mir über ein Dutzend Lehrer gegenüber, die teilweise länger ihren Beruf ausübten, als ich alt war. Plötzlich kommen sie mit ihren Erwartungen und Fragen - zu mir! Das hätte ich mir niemals ausdenken können, als ich vor vier Jahren noch selbst die Schulbank drückte.

Die Diskussion begann ich mit einer kleinen Einführung über die Rolle der Frau im Islam. Demnach bietet der Koran ein vollständiges Regelwerk zum Alltagsleben, Recht, Ehe und Scheidung, Gebet und allen anderen Bereichen des menschlichen Zusammenseins. Die Rollenverteilungen von Männern und Frauen sind dort ganz klar und bis ins kleinste Detail definiert.

Auch einige für unser westliches Kulturverständnis durchaus bizarre Regelungen werden im Koran überliefert. Muslima müssen sich z.B. bei der Partnerwahl auf Muslims beschränken, während Muslims jede beliebige (und theoretisch mehrere) Frauen ehelichen können. Menstruierende Frauen gelten als „unrein“ und dürfen sich weder in einer Moschee aufhalten, noch den Heiligen Koran berühren. Darüber hinaus ist gemeinhin bekannt, wie sehr bei Frauen auf die Jungfräulichkeit vor der Ehe geachtet wird und wie das Gewicht der Ehre von ihnen für ihre Familien getragen werden muss. Mir ist durchaus bewusst, dass Religion und Kultur nicht dasselbe sind, dennoch gehen sie auseinander hervor. Das eine wächst aus dem anderen. Egal ob bestimmte antiemanzipatorische Regeln aus islamischer Sicht vorausgesetzt werden oder nicht – gelebt werden sie trotzdem. Religion prägt die Gesellschaft, in der sie ausgeübt wird.

Einer der Lehrer erzählte von einem Vorfall in der Klasse, der ihn nachhaltig beeindruckt hatte. Im Unterricht wurden den Schülern Schulbibeln ausgeteilt. Die Exemplare zeigten teilweise schwere Abnutzungsspuren, mit herausgerissenen Seiten, Krakeleien wie „Heil Satan“ und offenen Buchrücken. Unter den Schülern war ein Muslim, der fassungslos seine angeschmierte Bibel in den Händen hielt. „So geht ihr also mit eurem Heiligen Buch um?“, fragte er ganz verwundert. Susanne K., eine andere Klassenlehrerin, merkte dazu an, dass die muslimischen Kinder über ihre Religion viel mehr Bescheid wüssten und sich viel stärker über sie definieren, während es bei den christlichen Schülern doch einige große Wissenslücken gibt und Religion für sie nicht so einen hohen Stellenwert hat. Den muslimischen Schülern hingegen gibt der Glauben ein besonderes Selbstbewusstsein und eine starke religiöse Identität. So die Beobachtungen der Lehrer.

Einmal Kopftuch, immer Kopftuch?

Die konkreten Sorgen der Lehrer an unseren Schulen drehen sich um Schülerinnen, die weder auf Projektwochen fahren dürfen, noch an der Lesenacht teilnehmen können. Ein pensionierter Schuldirektor in der Runde erzählte von einem Zwischenfall mit dem erbosten Vater einer Schülerin, der ihr den Schwimmunterricht verbieten wollte, da in dem öffentlichen Bad ja auch Männer seien.

Susanne K. sprach sich gar für ein Kopftuchverbot an Schulen aus, bis die Schülerinnen das 16. Lebensjahr erreichen. „So kann man wissen, ob die Mädchen nun wirklich eine selbstbestimmte Entscheidung treffen oder lediglich ihre Mütter nachahmen wollen.“ Viele junge Mädchen erleben eine Phase, in der sie wie ihre Mütter sein wollen und beginnen, das Kopftuch zu tragen wie sie. „Die Mama ist so hübsch mit dem Kopftuch, so möchte ich auch sein“, sagen sie häufig. Wenn die Mädchen damit erst einmal beginnen, werden sie in der Familie viel gelobt. Überlegen sie es sich später doch anders, kann das zu heftiger Kritik führen. Ein enormer sozialer Druck herrscht in den muslimischen Communities. Das Ablegen des Kopftuchs kann als ein Abfall vom Glauben interpretiert werden. Die Ehre steht auf dem Spiel. „Als Lehrerin ist es meine Pflicht, diese jungen Menschen zu selbstständigen Individuen in einem demokratischen Staat zu erziehen. Ich kann hier nicht wegsehen“, so die Lehrerin. Und ich stimme ihr aus Erfahrung zu. Das Kopftuch dient im Grunde dazu, um das Haar der Frauen vor männlichen Blicken zu schützen – eine Sexualisierung der Frau, die selbst vor kleinen Mädchen nicht Halt macht.

Religionsfreiheit ist nicht grenzenlos

Anders als das Christentum hat der Islam keine 300 Jahre Reformation und Aufklärung durchgemacht. Daher hat er heute Probleme, den Lebensrealitäten in Europa gerecht zu werden. Der Koran gilt, im Gegensatz zur Bibel, als das direkte und unfehlbare Wort Gottes. Wird an diesem Kritik geübt, beleidigt man die allerhöchste Instanz der Gläubigen. In Zeiten wie diesen, in denen der Islam scharf kritisiert und medial ausgeschlachtet wird, kehren viele junge Menschen umso mehr zu einem strengen Glauben zurück. Niemand möchte sich so einen wichtigen Teil seiner Identität nehmen oder schlechtmachen lassen. Ein neuer Konservativismus der zweiten und dritten Generationen von Muslimen in Europa macht sich breit – Stichwort „Generation Haram“. Jeder, der versucht, den Islam zu liberalisieren, sieht sich mit Gewalt- und Todesdrohungen konfrontiert. Man denke an Seyran Ateş, die in Berlin eine liberale Moschee eröffnete, in der Männer und Frauen gemeinsam beten und Homosexuelle willkommen sind. Oder Hamed Abdel Samad, einen ehemaligen Muslimbruder und heute einen der bekanntesten Islamkritiker. Über beide sind islamische Todesurteile verhängt worden, daher stehen sie unter strengem Polizeischutz. Man müsse sich doch mal vorstellen, was los wäre, wenn der Vatikan Todesbefehle über jeden Kirchenkritiker, Jesus-Karikaturisten oder Satiriker ausspräche, die jeder Christ straffrei vollstrecken dürfte. Das, und nichts anderes, ist die sogenannte „Fatwa“, eben dieser Rechtsspruch islamischer Gelehrter, der alle Kritiker treffen kann.

Aus der dreistündigen Diskussion mit den Lehrern habe ich einiges mitgenommen: Ich bedaure, dass ich ihnen keinen Masterplan zum „Schutz“ der Mädchen vorlegen konnte. Man kann niemanden „befreien“, der sich nicht bedroht fühlt. Viele junge Frauen nehmen ja ihre konservative Erziehung hin und suchen keine Hilfe.

Trotzdem soll man als Lehrer oder Lehrerin aufmerksam bleiben und stets differenzieren. Wie lange währt die Toleranz und wann schützt man mit ihr die Intoleranz? Wo beginnt man schädliche Umstände aus einem überzogenen Verständnis der Religionsfreiheit zu „dulden“, mit denen man eigentlich nicht einverstanden ist? Und wo verläuft eigentlich die Schmerzgrenze zwischen Religionsfreiheit und Einschränkungen persönlicher Freiheit, insbesondere der Mädchen und Frauen?

Der Schuldirektor löste den Fall mit dem Schwimmunterricht folgendermaßen: Er erklärte dem Vater, dass seine Tochter das Recht hat, Schwimmen zu lernen. Seinen Schülerinnen und Schülern dies beizubringen, sei als Lehrer der staatlichen Einrichtung Schule sein Auftrag und seine Pflicht.

Mehr Ansprechpartner an Schulen

Aktiver Dialog, aber wenn nötig auch Konfrontationen dürfen in solchen Fällen von Seiten der Lehrer nicht gescheut werden! Die Familie ist ein schwer zu durchbrechendes Machtgeflecht. Gerade junge Mädchen haben es schwer, sich gegen sie aufzulehnen. Daher ist es wichtig, mehr geschützte Anlaufstellen an den Schulen zu schaffen, an die sie sich wenden können, wenn sie mit ihrer Situation unglücklich sind. Davon profitieren natürlich nicht nur muslimische Mädchen, sondern auch die Jungs, an die ebenso große Erwartungen gestellt werden. Psychische und physische Gewalt sind zudem auch keine Seltenheit, aber immer noch ein Tabu. Lehrer und Lehrerinnen sind an dieser Stelle besonders gefragt, weil sie die Verantwortung für unsere heranwachsenden Bürger mittragen, statt sie allein deren Eltern und ihren religiösen Vorstellungen zu überlassen.

Wenn bei den Lehrerinnen und Lehrern die Alarmglocken läuten, müssen sie von der Gesellschaft gehört werden, und dürfen nicht aus falscher Toleranz gegenüber sogenannter „kultureller Eigenheiten“ ignoriert werden.

 

 

*alle Namen von der Redaktion geändert

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