Auslandsstudium im Ausnahmezustand

21. Dezember 2020

Für viele ist der Erasmusaufenthalt die geilste Zeit des Lebens. Doch die Pandemie stellt Austauschstudierende vor eine harte Probe. Macht ein Auslandsstudium überhaupt Sinn, wenn Partys und Präsenzunterricht ausfallen? Vier "gestrandete" StudentInnen berichten. 

Von Anna Jandrisevits, Fotos: Lisa Leutner

Erasmus, Auslandsstudierende
Foto: Lisa Leutner

Ein Auslandssemester stellen sich die meisten Studierenden ungefähr so vor: Partys schmeißen, Leute kennenlernen und viel Sex haben. In der Realität kommt der eigentliche Grund für den Exchange hinzu, nämlich das Studieren. Ob man nun mehr lernt oder feiert, die meisten Auslandsstudierenden bezeichnen ihre Erasmusaufenthalte als DIE Zeit ihres Lebens. Womit man eher nicht rechnet, ist eine globale Pandemie, die das ganze Semester auf den Kopf stellt. Die geilste Zeit des Lebens wird plötzlich mit Zeit absitzen verbracht. Kann man den Erasmusaufenthalt trotz Coronavirus überhaupt genießen? Vier Auslandsstudierende in Wien erzählen von ihren Erfahrungen zwischen Politik, Reality-TV und Einsamkeit.  

FERN DER HEIMAT

Als ich Tatiana frage, wie sie ein Wien vor der Pandemie erlebte, sagt sie lachend: „Ich hatte die beste Zeit meines Lebens.“ Die Studentin zog im September letztens Jahres aus London in die Hauptstadt, als von einem Lockdown noch keine Rede war. In den ersten Monaten lernte sie unzählige Leute kennen, besuchte Vorlesungen an der Universität Wien und entdeckte die Highlights der Stadt. „Ich habe so viel Sturm getrunken, es ist echt die beste Erfindung der Menschheit!“. Die Zeit ihres Lebens änderte sich schlagartig, als die Pandemie ausbrach. Mit dem Lockdown kam ein großes Gefühl der Enttäuschung. „Das ist eine einmalige Lebenserfahrung und du darfst sie plötzlich nicht mehr so erleben, wie du dir das vorgestellt hast.“ Die Enttäuschung kennen in diesem Jahr viele Auslandsstudierende. Trotzdem kommt es mir vor, als würde bei den meisten ein anderes Gefühl überwiegen: Optimismus. Man macht das Beste daraus. „Die Essenz von Erasmus ist auch in einer Pandemie die gleiche: es geht um die Freundschaften, die du hier aufbaust.“, meint Pilar. Die gebürtige Spanierin ist für ein Semester an der FH des BFI Wien, in ihrer Heimat Pamplona studiert sie Jus und BWL. „Ich war mir sicher, dass ich es machen werde, komme was wolle.“, erinnert sich die 21-Jährige an das Frühjahr zurück. Viele ihrer FreundInnen stornierten das Erasmus-Programm, aber für Pilar kam das nicht infrage. „Es war die beste Entscheidung, die ich treffen konnte.“

Erasmus, Auslandsstudierende
Foto: Lisa Leutner

Fahre ich oder nicht? Bleibe ich oder kehre ich heim? Diesen Fragen mussten sich alle Auslandsstudierenden stellen. Julie, die im August für ein Semester aus Bree, Belgien nach Wien gekommen ist, erzählt: „Manche sind nachhause gefahren, aber ich persönlich finde, dadurch verpasst man das volle Erlebnis. Natürlich ist nicht alles immer super, man sammelt auch schlechte Erfahrungen. Aber das macht Erasmus aus.“ Während Auslandsstudierende je zu Beginn des Sommer- und Wintersemesters noch auf die Hochschulen durften, wurde der Lehrbetrieb schnell wieder auf Distance Learning umgestellt. Das bedeutete: der Kontakt zu anderen Studierenden vor Ort fiel weg, das Zuhause wurde zum Audimax. In Wiens Studentenheimen saßen junge Menschen aus der ganzen Welt vor ihren Laptops und lauschten Vorlesungen aus den unterschiedlichsten Studiengängen. Andere Zimmer wurden währenddessen wieder leergeräumt. Laut dem Erasmus Student Network Austria und dem OeAD (Österreichischer Austauschdienst) kehrten im Sommersemester rund 50% der Studierenden in ihre Heimatländer zurück. Nach Ausbruch der Pandemie unterbrachen viele Heimatuniversitäten die Erasmusaufenthalte oder Regierungen beorderten Studierende zurück. Auch im Wintersemester setzt sich dieser Trend fort. „Einige Universitäten haben ihre Studierenden hingewiesen ‚auf eigene Gefahr‘ ins Ausland zu reisen, was verständlicherweise dazu geführt hat, dass sich viele für den Abbruch entschieden haben.“, berichtet der Präsident des Erasmus Student Network Austria, José Ramon Sabogal Hernandez. 

Erasmus, Auslandsstudierende
Foto: Lisa Leutner

JETZT ODER NIE

Das Erasmus Student Network Austria unterstützt Auslandsstudierende in ihrer Entscheidung, für ein bis zwei Semester im Ausland zu studieren. Die studentische Organisation hilft bei der sozialen und kulturellen Integration im Ausland. Gerade zu Beginn des Semesters organisiert ESN viele Events, um Auslandsstudierende miteinander zu vernetzen. So lernten Tatiana und Pilar andere Auslandsstudierende kennen, mit denen sie auch im Lockdown Kontakt haben. Als die Einschränkungen kamen, verlegte ESN den Austausch mit Online-Events ins Internet. Für viele eine wichtige Hilfe in der Isolation, meint Pilar: „Ich hatte Angst vor der Einsamkeit, weil ich alleine lebe. Aber dadurch fühlte ich mich willkommen und unterstützt.“ Auch Tatiana lebt alleine und kämpft immer wieder mit der Einsamkeit. Zwar beendete sie ihr Auslandsjahr im Juni, aber entschloss sich für längere Zeit in Wien zu bleiben, da an ihrer Heimatuniversität sowieso die Online-Lehre fortgesetzt wird und eine Mietwohnung in Wien deutlich billiger als in London ist. „Aus dem Jahr im Ausland wurde eine Ewigkeit im Ausland.“, stellt die 21-Jährige fest. „Ich habe meine Familie ewig nicht mehr gesehen, klar fühle ich mich manchmal einsam. Auch finanziell ist es schwierig, ich bin gerade auf der Suche nach einem Job und die Pandemie macht es fast unmöglich.“

Erasmus, Auslandsstudierende
Foto: Lisa Leutner

Um etwas Geld zu verdienen und kreativ zu bleiben, malt Tatiana. Sie hat eine Geschäftsidee für personalisierte, handbemalte Jacken entwickelt. Eine Pandemie schafft neue Wege, aber man kann im Ausnahmezustand nicht immer produktiv sein. Als ich Tatiana frage, wie sie ihre Freizeit in einer Pandemie verbringt, erzählt sie mir von zwei Versionen: „Es gibt die eine Version von mir, in der ich male, Zimtschnecken backe und Aufgaben für die Uni erledige. Und dann gibt es die andere Version, in der ich zehn Stunden am Stück ‚90 Day Fiancé‘ anschaue.“ Wer während des Lockdowns im Studentenheim lebt, ist in Sachen Freizeitaktivitäten bestimmt im Vorteil. Julie hat sich dank ihrer MitbewohnerInnen im Studentenheim nie allein gefühlt. „Wir essen jeden Tag gemeinsam, schauen Filme oder gehen die Liste 365 things to do in Vienna durch, wenn es Corona zulässt.“, erzählt die 21-Jährige. Es lässt sich aber nicht abstreiten, dass das Auslandsstudium anders ist als sonst. Luca, der für ein Semester BWL in Wien studiert, meint: „Ohne die Pandemie hätte ich Städtetrips gemacht, Partys gefeiert und mehr soziale Kontakte geknüpft.“ Trotzdem bereut der 23-jährige Student aus Antwerpen seine Entscheidung nicht. „Ich dachte, entweder ich mache ich es jetzt oder nie.“ 

Erasmus, Auslandsstudierende
Foto: Lisa Leutner

POLITIK STATT PARTYS 

Wer sein Auslandsstudium nicht abbricht, kann den Aufenthalt im Gastland sinnvoll nutzen: durch politisches Engagement. Dass sich mobile Jugendliche im Ausland an politischen Prozessen beteiligen können, ist den meisten gar nicht bewusst. Luca meint etwa: „Ich interessiere mich sehr für Politik und verfolge die politische Lage in Österreich, aber engagiere mich nicht politisch.“ In Wien gibt es die Plattform Politikos, die sich zum Ziel gesetzt hat, Politik für junge Menschen verständlicher und zugänglicher zu machen. Vor allem Auslandsstudierende kommen in der Politik zu kurz. In der EU sind Wahlsysteme nicht vollständig aufeinander abgestimmt, es gibt einen Mangel an faktenbasierten Informationen für junge, mobile EuropäerInnen. Seit Februar ist Politikos Partner von EMY (Empowerment of Mobile Youth in the EU), einem EU-Projekt, das die demokratische Beteiligung von europäischen, mobilen Jugendlichen unterstützt. „Viele wissen nicht, dass sie sich bei EU-Wahlen als österreichische Kandidaten aufstellen lassen könnten. Oder dass sie nicht jemanden aus Deutschland wählen müssen, nur weil sie aus Deutschland sind.“, erzählt Mohammad Allagha, Gründer und Geschäftsführer von Politikos. Er ist überzeugt, man könnte Auslandsstudierende zur politischen Teilhabe motivieren, wenn man ihnen Gehör verschafft. Auch Tatiana, die in London Europäische Politikwissenschaft & Soziologie studiert, findet: „Durch solche Plattformen fühlen sich junge Menschen als Teil eines demokratischen Systems, wo auch immer sie auf der Welt sind.“

Ein Auslandsstudium während einer Pandemie zeigt vor allem eines: es gibt fern von der Heimat weit mehr zu tun, als man denkt. Ob handbemalte Jacken, eine 365-Dinge Liste oder politische Partizipation – junge Menschen finden neue Wege, um sich zu beschäftigen, selbst im Ausnahmezustand. Keine der Auslandsstudierenden bereuen ihre Entscheidung nach Wien gekommen zu sein, alle würden den Erasmusaufenthalt genauso wieder machen. Auch in einer Pandemie. Julie gefällt es sogar so gut, dass sie über Weihnachten hier bleibt. Statt zurück nach Belgien zu reisen, begleitet sie ihre Mitbewohnerin im Studentenheim zu deren Familie aufs Land: "Ich werde also über die Feiertage Österreich ein bisschen näher erkunden." Tatiana hat in ihrer Zeit in Wien vor allem eine Sache realisiert: „Wenn man 18 wird, sagen die Leute, dass du volljährig bist. Aber ich glaube, ich wurde tatsächlich während meines Auslandsstudiums volljährig.“  

EMY Online Conference: Am 21. Jänner lädt EMY alle mobilen EU-BürgerInnen zu einer Online Konferenz ein, die sich der europäischen mobilen Jugend und ihrer demokratischen Partizipation widmet. Junge Auslandsstudierende können Fragen stellen  und an einer Diskussionen mit EU-Abgeordneten teilnehmen. Infos: https://www.facebook.com/events/858925861348829 

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