Den verlorenen Sohn zu Grabe tragen

01. Oktober 2012

 

Jeden Tag greife ich zum Hörer. Ich wähle die Kurzwahltaste für “Mama”. Sie ist nicht weit weg.  Paar Bezirke entfernt, paar Kilometer Distanz, die Möglichkeit gegeben, zu ihr zu gehen, in die Ubahn zu steigen, sich einen Kuss zu holen, eine herzliche Umarmung zu spüren, vom Menschen, der dich am meisten auf der Welt liebt.

Heute habe ich wieder ihre Stimme gehört. Ab und zu ergibt sich das eine oder andere Thema über Menschen, die wir kennen oder die sie kennt. Ab und zu sind es Geschichten von Menschen, von denen ich nur die Geschichte höre, sie aber nie zu Gesicht bekommen werde. Es sind Menschen aus der Kindheit meiner Mutter. Und die Geschichte vom verlorenen Sohn, den seine Mutter heute zu Grabe trägt, ist eine davon.

“Die ersten Häuser in unserem Dorf” sagte Mama heute zu mir. “Das sind unsere Cousins.”
Cousins, die mit ihr im gleichen Dorf aufgewachsen sind. Auch die haben Kinder bekommen, wie sie mich. Es war das Jahr 1991. Der  Sohn ihres Cousins war damals 20. Ich war 8 Jahre alt. Wir sind uns nie begegnet. Und werden es auch nie. Er ist jetzt tot. Was unsere Geschichten unterscheidet sind unsere Lebenswege. Meiner führte nach Österreich. Seiner blieb in Bosnien. Und in Bosnien war Krieg. Als ich den ersten Schritt in meine österreichische neue Klasse wagte, ist er verschwunden. Und er blieb es 20 Jahre lang. So lange ist her, dass der Krieg aus ist. So lange haben seine Eltern gehofft, dass ihr Sohn noch lebt. Egal wo, egal wie. Hauptsache, dass er am Leben ist. Solange seine Knochen noch verschollen waren, hat die Hoffnung in den Herzen seiner Eltern gelebt, dass ihr Kind noch atmet. Eine Hoffnung, die nur sie in sich trugen, weil jeder andere ihn schon begraben hat. In Gedanken war er weg, ohne zu wissen, unter welches Stückchen Erde er im Kriegszustand verbuddelt wurde und unter welchen Umständen er gestorben ist.

Mit dieser Hoffnung haben sie gelebt, 20 Jahre lang. Kürzlich kam die Nachricht. DNA-Spuren wurden verglichen. Er ist es! Ihr Sohn ist tot.

Gräber wurden gefunden und die Leute sind in Aufruhr. Leute aus dem Dorf, die Söhne, Väter, Brüder vermissen. Jetzt warten sie alle auf die Nachricht, wer noch dabei ist. Und es fühlt sich für sie an, als ob ihre Liebsten erst jetzt gestorben sind, weil auch die letzte unrealistische Hoffnung erlischt, dass einige von ihnen am Leben sind.


Bosnien bringt noch immer Kriegsopfer hervor. Die Vermissten werden gefunden, sie  sterben erst jetzt und mit ihnen die Hoffnung auf Leben, die eigentlich nur in den Köpfen ihrer Familien existiert hat.

Morgen greife ich wieder zum Hörer und werde froh sein die Stimme meiner Mutter zu hören.

 

Kommentare

 

ich will mir gar nicht vorstellen, was das für ein schreckliches gefühl sein muss, wenn der letzte funken erlischt und man endlich ehrlich zu sich selbst sein muss :(

 

so unbeschreiblich traurig..

 

super blog!

 

wirklich unvorstellbar.

Das könnte dich auch interessieren

Foto: Zoe Opratko
Zum Abschied gibt es kein Trompeten­...
Foto: Marko Mestrović
Ob Hijabi-Style, koschere Perücken oder...
Foto: Marko Mestrović
Nicht über die Communitys zu sprechen,...

Anmelden & Mitreden

9 + 2 =
Bitte löse die Rechnung