Die mit den Tschetschenen spricht

20. März 2017

Ob Bandenkriege oder Austro-Dschihadismus: Junge Tschetschenen mischen an vorderster Front mit. Die Journalistin Maynat Kurbanova über Klischee und Wirklichkeit von Österreichs wohl unbeliebtester Migrantengruppe.

Von Livia Klingl und Christoph Liebentritt (Fotos)

Sie war Kriegsberichterstatterin in ihrer Heimat Tschetschenien, musste fliehen, nicht nur aus der kleinen Kaukasusrepublik, sondern auch aus Putins großem Russland. Fünf Jahre lebte Maynat Kurbanova in Deutschland, seit sechs Jahren ist sie in Österreich. In Tschetschenien hatte sie Philologie und Journalismus studiert. Hier kümmert sich die 43-jährige Mutter einer Tochter um die traumatisierenden Folgen der grausigen Gemetzel in Tschetschenien, unter anderem in der Jugendstrafanstalt Gerasdorf um Burschen, die der Gesellschaft entglitten sind, in Kriminalität oder Islamismus.

Foto: Christoph Liebentritt
Maynat Kurbanova ist selbst aus Tschetschenien geflüchtet

Als Maynat Kurbanova nach Österreich kam und von Journalisten mit der Frage konfrontiert wurde, wie sie mit dem schlechten Image von Tschetschenen umgehe, verstand sie die Frage nicht. Denn in Deutschland waren die Tschetschenen die Helden im Kampf gegen die russische Armee. „Als ich 2005 nach Deutschland kam, war ich ständig bei Podiumsdiskussionen und auf Konferenzen, erzählte aus dem Krieg. Die Tschetschenen waren da die Freiheitskämpfer und die Opfer. Erst in Österreich wurde ich mit dem Bild des Tschetschenen als Täter konfrontiert. Das Netteste, was man mir sagt, ist: „Sie sehen aber nicht wie eine Tschetschenin aus!“ Dann frage ich immer: „Haben Sie viele Tschetschenen gesehen?“. Sie mit ihrem Aussehen und ihrer Art durch das Leben zu gehen, betreffe das Image der Tschetschenen nicht sonderlich, bedrückend sei es aber sehr wohl. „Ich mag nicht jeden Tag damit konfrontiert werden, zu einer verbrecherischen Nation zu gehören, in der alle davon träumen, in Syrien oder hier Kriminelles zu tun.“

Foto: Christoph Liebentritt
Das Image tschetschenischer Jugendlicher könnte kaum schlechter sein

Diese Stigmatisierung sei anstrengend und wirke sich bereits bei Kindern aus. „Die häufigste Frage von 13-Jährigen ist, warum hassen alle die Tschetschenen, die Muslime, die Ausländer?“ Die tschetschenische Community sei sehr sauer auf die Medien, „und sie wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen. Andererseits liefern die tschetschenischen Jugendlichen hier auch genügend Stoff für negative Berichte wie die Radikalisierung, die vor einem Jahr in aller Munde war.“ Einen Prozentsatz kann Maynat Kurbanova nicht nennen. Die Jugendlichen, die so radikalisiert sind, dass sie mit dem Gedanken spielen nach Syrien zu gehen, seien jedenfalls eine sehr kleine Gruppe, aber die lauteste und die sichtbarste. Und die, die sich im Umfeld des 2016 in Graz zu 20 Jahren Gefängnis verurteilten Hasspredigers Mirsad O. befunden haben, dessen unseliges Wirken jahrelang vom Staat stillschweigend toleriert worden sei, die seien nicht mehr erreichbar, „die sind Zombies. Viel problematischer sehe ich aber die an, die unglaublich stark mit dem Glauben, mit der Religion herumspielen und ihre Identität, oft ihre einzige Identität dort suchen.“

Eigentlich seien das österreichische Jugendliche, österreichische Jugendliche tschetschenischer Abstammung, die hier geboren wurden oder als ganz kleine Kinder hergekommen und hier sozialisiert wurden. „Die sind hier in den Kindergarten, in die Schule gegangen. Dass sie sich hier so sehr nicht wohlfühlen, nicht als Teil der Gesellschaft empfinden, ist bitter. Die suchen ihre Identität in einer sehr seltsamen Mischung aus religiösen, oberflächlichen Floskeln wie haram und halal und dann noch in so ‚coolen‘ Wörtern wie Dschihad, ohne zu wissen, was dahinter steckt. Dschihad ist für viele etwas Romantisches, es ist so etwas wie Heimat verteidigen und Krieg romantisieren. Dabei ist im Krieg überhaupt kein Platz für Romantik, Krieg ist etwas Schmutziges. Der hat nichts Ästhetisches wie in diesen Propaganda-Clips. Aber die jungen Menschen wissen das nicht, fühlen sich hier entwurzelt und sehnen sich nach einer Heimat, nach einem Ort, wo sie dazugehören können. Das ist Syrien natürlich auch nicht. Aber es ist wie eine Verheißung. In ihrer Phantasie malen sie sich eine neue, schöne Welt aus.“

Foto: Christoph Liebentritt
Viele heranwachsende Tschetschenen haben kein positives Männerbild

Nicht alle, die mit solchen Wörtern spielen, ihre Zuflucht vermeintlich in der Religion suchen, seien dermaßen radikal, dass sie nach Syrien gingen. „Aber es ist ein Zeichen dafür, dass sie es hier nicht geschafft haben und nicht glauben, dass sie es jemals hier schaffen werden. Verschiedenste traurige Erfahrungen führen dazu, wie Alltagsrassismus und Ausgrenzung.“ Diese hat auch Kurbanovas Tochter erlebt. Da gab es einen Lehrer, der sei ständig mit den Gratisblättern in die Schule gekommen und habe, wenn wieder eine Geschichte über kriminelle Tschetschenen drinnen gestanden sei, zu ihrer Tochter gesagt: „Na, Amina, wieder etwas angestellt heute?!“ Dazu komme, dass viele Tschetschenen, bevor sie in Österreich gelandet sind, während des Krieges in ihrer Heimat Binnenflüchtlinge in den Nachbarrepubliken Inguschetien und Dagestan waren, mitunter jahrelang in unerträglichen Flüchtlingslagern, in Zelten, zum Teil auch in Eisenbahnwagons gelebt haben. „Nach diesen Jahren kommen sie nach Österreich und haben dann noch eine endlose Wegstrecke vor sich. Ich kenne Familien, die haben nach neun Jahren einen positiven Asylbescheid bekommen. Jahrelang waren sie in Flüchtlingsheimen, oft in Pensionen ohne jegliche Bewegungsfreiheit. Ich habe gerade eine Umfrage gemacht, wo es um Jobs und Bildung der Flüchtlinge ging. Da erzählten die Menschen, was ihnen am meisten geholfen hat und was das größte Hindernis war, anzukommen. Diese Zeiten in Heimen und Pensionen, wo sie nicht Herr über das eigene Schicksal gewesen sind, wo sie keine Deutschkurse besuchen durften, nicht arbeiten durften und es keine Kompetenzchecks gab, waren für sie fürchterlich. Die sind in den Unterkünften vor sich hinvegetiert. Und die Kinder sind so aufgewachsen. Die Tochter der Familie, die neun Jahre auf den positiven Bescheid gewartet hat, war ein kleines Kind bei der Ankunft, sie ist in einer Pension aufgewachsen, zu einer jungen Frau geworden. Jahrelang konnte sie die Schulfreundinnen nicht zu sich einladen in das eine Zimmer. Sie hat sich geschämt. Und die Burschen, die unter diesen Umständen aufwachsen, wie sollen sie sich hier heimisch, als Teil der Gesellschaft fühlen?“

Die erwachsenen Männer, die in Tschetschenien Helden waren oder zumindest Versorger der Familien, die Jobs hatten, ihre Rolle im Leben, hatten hier nichts mehr. „Da kommt zum Kriegstrauma dazu, dass sie jahrelang nicht arbeiten durften, auf dem Sofa liegen mussten. Wie fühlen sie sich, wenn sie ihren Pflichten nicht nachgehen können? Diese zum Nichtstun gezwungenen Männer werden depressiv und aggressiv und schotten sich nur noch mehr von der Gesellschaft ab. Und die Buben, die da heranwachsen, die das alles sehen, die haben dann kein positives Männerbild. Dann kommen Dschihadisten und bieten eine Perspektive, zeigen denen, wo sie jemand sind. Wenn da selbstbewusste Männer kommen und vorgaukeln, hier ist eine neue Welt, wo du wer bist und diese Aufgabe hast und ein Teil von etwas Wichtigem, etwas Großem werden kannst, ist das sehr verlockend.“

Die Attraktivität des so genannten Islamischen Staates habe nachgelassen. Aber, so meint Frau Kurbanova, hätten sie noch zwei, drei Jahre solche Erfolge vorzuweisen gehabt wie zu Beginn ihres Feldzuges, hätte dieses Problem mit den islamistischen Kämpfern in Europa noch viel größere Ausmaße angenommen.

Wichtig sei festzuhalten, dass der Großteil der Tschetschenen in Österreich sein Leben lebt, arbeitet, Steuern zahlt. Aber die seien eben keine Story für die Boulevardmedien. „Demnächst haben wir ein Treffen tschetschenischer Studenten. Allein aus Wien sind das rund hundert. Das sei - gegen das gängige Narrativ - festgehalten. Aber natürlich gibt es Probleme mit Kriminalität. Was ich im Gefängnis feststelle und was mich selber erstaunt, ist, dass diese jungen Männer, die teilweise T-Shirts mit der Aufschrift Tschetschenien tragen, haben keine Ahnung, was Tschetschenien ist. Nicht einmal die Hauptstadt kennen sie. Sie haben in ihren Köpfen ein sehr ausgeprägtes Identitätsbild: ich bin ein Tschetschene. Aber wenn ich die frage, was heißt das, ein Tschetschene zu sein, dann kommt die Antwort: hart, cool, zuschlagen können. Dieses Bild entspricht dermaßen dem hiesigen Klischee, dass es fast lustig wäre, wenn es nicht so traurig wäre. Diese Burschen liefern mit diesem Selbstbild die Bestätigung des Fremdbildes.“

Seit etwa zwei Jahren gibt es in der Jugendstrafanstalt Gerasdorf ein Projekt mit kaukasischen Jugendlichen, wo Maynat Kurbanova mit einem männlichen Kollegen und in Anwesenheit einer Sozialpädagogin aus der Anstalt versucht, an diesem Selbst- und Fremdbild der Jugendlichen zu arbeiten.

„Wir haben noch keine Evaluierung, aber man merkt, wie uns diese Jugendlichen am Anfang wahrnahmen und wie sich das verändert. Man kann aus denen ganz leicht so genannte normale Menschen machen. Das sind Burschen, die genauso unsicher sind, die genauso Bestätigung brauchen, ein bisschen Wärme, ein bisschen Zuneigung, wie alle anderen jungen Leute. Diese harte Schale, dieses Bild, das sie nach außen liefern, das ist auch ein gewisser Versuch, sich selber zu schützen. Es gibt auch welche, für die das nach außen aggressiv oder hart sein nichts anderes ist, als dem Klischee entsprechen zu wollen. Denn: Was erwartet ein durchschnittlicher Mensch in Österreich von einem tschetschenischen Jugendlichen? Dass er hart ist, aggressiv ist, dass man dem am besten aus dem Weg geht. Die Medien, auch die sogenannten Qualitätsmedien, verbreiten dieses Bild. Was soll ein tschetschenischer 17-Jähriger machen, der eigentlich körperlich schwächer ist, der vielleicht in Wahrheit gern Klavier spielen möchte? Der muss diesem Bild entsprechen, glaubt er. Ich sehe leider häufig, dass diese jungen Menschen in die Ecke der Aggressiven, Bösen, Radikalen gedrängt werden. Aber man kann sie, wie wir in diesem Gefängnisprojekt erleben, von dort auch wieder abholen.“

Foto: Christoph Liebentritt
Foto: Christoph Liebentritt

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Dann lies das neue Buch von Livia Klingl, die diesen Artikel für biber geschrieben hat. Die Journalistin und Buchautorin zeigt mithilfe von 21 Porträts in „Lauter Fremde!“, dass wir uns trotz digitaler Vernetzung und Globalisierung fremd geworden sind in unserem Land – egal ob wir Österreicher oder Ausländer sind.

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Kommentare

 

Mitglieder, Unterstützer und Sympathisanten des Daesh (IS) und anderer Terrororganisationen wohl in A monatlich kassieren?
http://www.bild.de/bild-plus/regional/duesseldorf/kriegsverbrecher/krieg...

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