Die Welt hinter dem Reumannplatz

15. September 2017

Seit 2.9. fährt die U1 bis nach Oberlaa. Nada, Adam, Nour und Aykut erinnern sich an die Zeit, bevor Favoritens Prärie in zehn Minuten vom Reumannplatz aus erreichbar war. Über Pornokinos, die legendäre 67er Bim, Büchereien im Gemeindebau und wohlernährte Bäuche.
Von Amar Rajković und Christoph Liebentritt (Fotos)

Vier Ur-Favoritner auf einem Foto: Nada, Aykut, Adam, Nour. (v.l.n.r.)
Vier Ur-Favoritner auf einem Foto: Nada, Aykut, Adam, Nour. (v.l.n.r.)

TROSTSTRASSE

Mundgeruch und Fortuna
Herrje, ihr altes Favoriten ist kaum wiederzuerkennen! Dass sie ausgerechnet der Linie 67 wehmütig nachsehen würde, hätte sich Nada niemals erträumen lassen.

Einer der bekanntesten Orte in Favoriten- Nada vor dem Fortuna-Kino.
Einer der bekanntesten Orte in Favoriten- Nada vor dem Fortuna-Kino.

Ich befinde mich in der überfüllten 67er Bim, es ist 10 Minuten vor 8 und ich komme garantiert zu spät in die Schule. Mit meinen 1,55m schaffe ich es gerade so noch, mich über drei Kinderköpfe an einer der Halteschlaufen festzuklammern. Das Publikum im 67er ist so Wienerisch wie der unfreundliche Kellner im Kaffeehaus: Von Anzugbeamten, k.u.k. Omas mit Broschen und Föhnfrisur bis zum Bauhackler und Mutter mit Einkaufswagen voller Viktor-Adler-Markt-Gemüse ist hier alles dabei. Spätestens an der Station „Troststaße“ pressen sich die letzten Nachzügler jeden Alters in den stinkenden Waggon, der morgendliche Mundgeruch der Bimschwätzer ist unverkennbar.

Es bleibt der Trost
Die Bim quetscht sich über die kreischenden, neu verlegten Gleisen an der großen Baugrube und der Plattform mit dem skeletthaften Überbau vorbei. „Da kommt die U1 bald auch hin, dann braucht niemand mehr diese grausliche Bim!“, meint eine Mutter zu ihrem Zögling. So, so… die U1 – hier? Die Linie 67 ist doch die Halsschlagader Favoritens! Zu allen Tageszeiten sind Menschen hier unterwegs – wenn es hier mal leer ist, dann nur, weil dieser Verrückte vom Pernerstorferhof mitfährt, der immer mit sich selbst streitet!
Ich bin so viele Jahre um diese Uhrzeit in dieser Bim gestanden, dass ich die einzelnen Waggone an den Filzstiftschmierereien wiedererkenne. Eigentlich muss ich schon lange nicht mehr aus dem Fenster schauen, um zu wissen, was draußen passiert. Immer dieselben müden Gesichter, die gleichen Hunde jeden Tag, die immer an dieses eine Gebäudeeck pinkeln. Der glatzköpfige Besitzer des uralten Fortuna Sexkinos poliert die Glasvitrinen. Einige Gasthäuser und Imbisse reihen sich wie Perlen an einer Kette an der ewigen Favoritenstraße auf. Im Gegensatz zu den Wettbüros hier, sehe ich allerdings keine Gäste dort ein- und ausgehen… Naja, eigentlich bin ich doch irgendwie froh, dass sich nun alles ins Unterirdische verlagert. Zurücktreten bitte, lieber 67er! Hier kommt die U1!

Nada El-Azar, 21, Studentin
 

ALTES LANDGUT

Daham im Horr

„Altes Landgut“ klingt wie die kaiserliche Sommerresidenz mit Jagdschloss und Gestüt. Pferde gibt es hier höchstens unter der Motorhaube. Dafür verlor Adam seine Fußballunschuld nebenan im Horr-Stadion.

So sehen echte Austrianer aus - Adam in Gedanken an Ogris und Pfeffer.
So sehen echte Austrianer aus - Adam in Gedanken an Ogris und Pfeffer.

Jeder Wiener Autofahrer kennt das Alte Landgut aus dem Radio durch die Meldung „Stau am Verteilerkreis“ – pünktlich zur Rush-Hour ereilt der Verkehrsinfarkt diese Gegend. Hoch über dieser funktionalen Verkehrsfläche thront die Heimstätte des FK Austria Wien, die Generali Arena. Bis 2010 hieß der Platz „Franz Horr Stadion“ und wird im Volksmund immer noch als „das Horr“ bezeichnet. Trotz Namensänderung fühlen sich Fans hier immer „daham“.

Pfeffer und Ogris
Meine fußballerische Taufe fand auf der berüchtigten „West“ (Westtribüne) statt: im zarten Alter von 14 Jahren, ohne Begleitung der Eltern, nur mit Schulfreunden, besuchte ich das erste Mal ein Fußballspiel der Austria. Und das auch gleich im lautesten Sektor: Da saßen die Anhänger der Austria nicht auf gemütlichen Plastiksesseln, sondern klammerten sich an Metalllehnen, die auf den kalten Beton geschraubt waren.
Beim Spiel selbst wurde angefeuert, mitgefiebert und kritisiert. Die Kicker- und Schiedsrichterkritik war direkt, unerbittlich, nicht jugendfrei. Es war ein Privileg Legenden wie Toni „Rambo“ Pfeffer und Andi Ogris in Action zu sehen. Weitere Besuche verfestigten das Bild: treue Fans, die bei Regen und Wind zu ihrer Mannschaft stehen, egal ob an der Tabellenspitze oder mit roter Laterne am Tabellenende. Die „West“ war für mich auch eine Art Milieustudie: echte Wiener in ihrem natürlichen Biotop ungestört beobachten.

Mehr als Krähe
In den 90ern hatte die Austria kein Leiberl – die Stars der Bundesliga waren andere. Sturm Graz spielte zum Beispiel in der Champions Leauge, die Austria irgendwo im Nirgendwo. Und auch die Umgebung am Alten Landgut, das übrigens nach einer 1900 abgerissenen Gastwirtschaft benannt ist, war eher karg. Nichts als vielbefahrene Straße und ein paar verschreckt dreinschauende Krähen. Mit dem U1-Ausbau holt sich Favoriten den Titel „die längste U-Bahn Linie der Stadt“ zurück. Und die Gegend um den Verteilerkreis entwickelt sich rasant weiter. Wo früher nur grüne Wiese war, bildet heute eine Fachhochschule die Bildungselite aus, im Freibad nebenan braten die Poser in der Sonne, und ab Sommer 2018 feiert die Austria ihre Siege im neu errichteten Stadion.


Adam Bezeczky, 33, biber Marketing

 

ALAUDAGASSE UND NEULAA

Die Streberin der Siedlung
Wenn was vom Taschengeld übrig war, schlenderte Nour nach ihrem Büchereibesuch durch die Albin-Hansson-Siedlung auf der Suche nach Süßigkeiten und Maroni.

Schau nicht so Ghetto! Nour vor ihrem persönlichen Alcatraz.
Schau nicht so Ghetto! Nour vor ihrem persönlichen Alcatraz.

Wer an dieser Stelle die ärgsten Wien Favoriten-Anekdoten erwartet, in denen es um Spielplatzfetzereien oder Ćevape- und Dönereskapaden geht, hat sich geschnitten. Wo früher noch die 67er Straßenbahn angehalten hat, um mich bei der Per-Albin-Hansson Siedlung abzusetzen, erstrahlt eine neue U-Bahnstation, die Alaudagasse.
Die Gegend war immer schon ruhig mit viel Grün rundherum. Ein harter Kontrast zum Reumannplatz. Mich hat es immer in die Per-Albin-Hansson Siedlung, meine Lieblingsbücherei, verschlagen. Weil ich eine Leseratte deluxe war und immer noch bin. Die Alaudagasse war DER Fixpunkt am Freitagnachmittag.

Ein bisschen durch die Siedlung schlendern und all mein Taschengeld für Süßigkeiten und je nach Jahreszeit für Eis oder Maroni ausgeben. Danach mit der Tasche voll Bücher und Comics einen kurzen Abstecher in den Park machen.
Ja, schon als Kind habe ich einen auf pseudo-intellektueller Gangster gemacht. Manchmal sind mir sogar meine Tragtaschen gerissen, weil ich mehr Bücher ausgeborgt habe, als ich vorhatte. Diese Situationen haben mir auch die ein oder andere lustige Konversation mit Pensionistinnen und Pensionisten beschert, die gerade von der Therme Oberlaa kamen.
Die paar Stationen, die ich immer bis zur Alaudagasse fuhr, waren für mich als Kind irre spannend. Die weiten, grünen Flächen fingen beim Alten Landgut an – wenn die Straßenbahn endlich aus dem Betonpark rausfuhr. Wenn ich die grünen Hügel und breiten Wiesen gesehen habe, fragte ich mich jedes Mal dasselbe: „Warum keinen Riesenpark dorthin bauen oder einen Zirkus nach dem anderen dort gastieren lassen?“ Aus der grünen Wiese wurde später kein Park, dafür eine Fachhochschule. Stieg man dann bei der Alaudagasse aus, kam man aus dem Staunen gar nicht heraus. Die Per-Albin-Hansson Siedlung war für mich als Kind keine Siedlung, sondern eine eigene Welt. Mit meinen zehn Jahren dachte ich, dass da sicher hunderttausende von Menschen drinnen wohnen würden. (Info: Es leben rund 16.000 Menschen in der Siedlung.) Die riesigen Häuserblocks jagten mir Angst ein. Sie erinnerten mich zu sehr an die amerikanische Gefängnisinsel Alcatraz. Als Kind fantasiert und dramatisiert man eben gerne.

Nour Khelifi, 23, Journalistin

 

STATION OBERLAA

„Kebab Oberlaa – beste wo gibt!“
Aykut und seine Wampe freuen sich auf die U1-Erweiterung nach Oberlaa. Die Erschließung der Favoritner Prärie bringt sie dem Dönerhändler ihres Vertrauens näher – und lässt Aykuts Magen wehmütig an die alten Zeiten zurückknurren.

Foto:Christoph Liebentritt
Foto:Christoph Liebentritt

 

Wer kennt das nicht? Mittagspause in der Schule und die Frage aller Fragen, die man sich jedes Mal aufs Neue stellen muss: “Was esse ich heute?“ Für mich und meine Jungs, Manuel und Ray, alle waschechte Favoritner, war es klar. „Mäci Bruder“ können wir nicht schon wieder machen. Es braucht schon gesundes Slowfood à la Favoriten. „Kebab Oberlaa – Beste wo gibt“ war dann die logische Antwort. Auch wenn wir dafür eine lange Odyssee mit dem 67er in Kauf nehmen mussten – der erste Biss in den Döner ließ uns die Reisestrapazen schnell vergessen. Das schönste an der ganze Sache: Ich konnte beobachten, wie der Bier trinkende Herbert gleichzeitig mit dem Ayran schlürfenden Hassan in seinen Döner hineinbeißt. Das kurze Schmunzeln in ihren Gesichtern danach bezeichnen die Linguisten wohl als pure Glückseligkeit.

 

Der lange Schatten Favoritens
Als ich älter wurde, fielen mir die zahlreichen Facetten des 10. Wiener Gemeindebezirks, dem Ghetto Wiens, immer stärker auf. An dieser Stelle angemerkt: Natürlich ist Favoriten keine Bronx. Aber jedes Mal, wenn ich mit meinen Freunden Markus und Stöger (Bitte nicht falsch verstehen, Jungs) eine Unterhaltung über den Zehnten führe, geben sie mir zu verstehen, dass die Gegend um den Reumannplatz das schlimmste Ghetto Wiens sei. Wir Favoritner wissen alle, dass das nicht stimmt. Wir bezeichnen unsere Hood trotzdem als Ghetto. Soll das mal einer verstehen.
Zurück zur 67er Bim. Die langen Fahrten mit ihr werden mir abgehen. Sie war neun Jahre lang mein Begleiter zur Schule hin und zurück. Ich weiß noch, als ich meinen Volkschulfreund Manuel jedes Mal überreden musste, den längeren Heimweg mit der 67er zu wählen. Nur damit wir eine Runde länger Mario Kart auf unserem Nintendo DS spielen konnten. Diese Zeiten bleiben immer in meinem Herzen. Gleichzeitig freue ich mich am Reumannplatz einzusteigen und nur paar Minuten später in Oberlaa den besten Döner zu verschlingen.


Aykut Erdem, 21, Inhaber KusKut Weine

 

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