Dimitré Dinev spricht über das Problem der Eliten

04. Mai 2010

„Es ist ärgerlich, von Politikern regiert zu werden, die nicht für ihre Sätze bürgen, ja oft nicht einmal einen schönen Satz
formulieren können“, sagt der Schriftsteller Dimitré Dinev. Für den Autor von „Engelszungen“ trägt die politische Klasse in
Österreich die Schuld an der Integrationsmisere.

 

Vom Flüchtling zum gefeierten Literaten. Dimitré Dinev kennt Österreich von zwei Seiten. Als Flüchtling teilte sich der gebürtige Bulgare 1990 mit zehn Albanern ein Zimmer in Traiskirchen. Als gefeierter Schriftsteller wird er heute gerne von Politik und Gesellschaft umworben. Auf Einladung des Belvedere sprach biber-Chefredakteur Simon Kravagna mit dem Autor von „Engelszungen“ über das „Fremde“ in Politik und Kultur.


biber: Herr Dinev, Sie sind vor Jahren aus Bulgarien nach Wien geflüchtet, mussten hier als „Fremder“ überleben und haben sich Ihre Anerkennung schwer erkämpft. Was fehlt Ihnen in der Integrationsdebatte?

Dimitr é Dinev: Man ruft in Österreich den Migranten immer zu: „Integriert euch!“ Aber schauen wir uns dieses Land einmal genauer an. Vor allem dessen Eliten. Wo gibt es Platz für Zuwanderer? Wo gibt es Platz für die zweite und dritte Generation?
Schauen Sie sich das Parlament an: Es gibt eine einzige Nationalratsabgeordnete mit Migrationshintergrund (gemeint ist Alev Korun, Grüne). Das ist das Signal dieser Gesellschaft: „Niemand will euch da oben!“ Die Botschaft lautet also: „Integriert euch, um unseren Dreck zu putzen, all jene Jobs zu machen, die sonst niemand machen will“. Warum wundert sich dann noch jemand, dass sich Parallelgesellschaften bilden?

Wer gehört für Sie zur österreichischen „Elite“?

Das sind jene, die identitätsstiftend wirken: Menschen, die an der Macht teilhaben, leitende Funktionen ausüben, die die Gesellschaft formen, Menschen, die in Bereichen der Politik, Bildung, Wirtschaft, Kunst eine Vorbildfunktion haben. Ein paar Künstler und Sportler mit Migrationsbackground reichen nicht. Das ist zu wenig! Das muss viel flächendeckender
sein. Man braucht viel mehr Lehrer mit Migrationshintergrund, aber auch Polizisten. Nicht jeder will Politiker werden, aber fast jeder Bub wollte irgendwann Polizist werden. Viele Migranten haben die österreichische Staatsbürgerschaft, aber was bringt sie ihnen? Ihre Karriere hat eine Grenze.

Sehen Sie das nicht zu pessimistisch? Vieles beginnt sich zu verändern. Es kommt darauf an, in welcher Sphäre man sich
bewegt. Manchmal ist es bereits ein Bonus, wenn man einen Migrationsbackground hat.


Das sagt man, aber ich hab’ es noch nie so richtig als Bonus erlebt. Ein Bonus ist nur die österreichische Staatsbürgerschaft.
Ohne sie würde ich keinen Job bekommen, ich würde nicht einmal ein Literaturstipendium bekommen. Gerade aber in der Literatur sollte Sprache wichtig sein, nicht Herkunft. Ich beschuldige nicht die Menschen in Österreich, es ist ein Problem
der Eliten. Die Sozialisten haben vieles total verhaut, über Schwarz und Blau will ich gar nicht reden. Es ist grauenhaft, dass
von politischer Seite keine großen Visionen kommen. Ich sehe nichts! Es ist ärgerlich, von Politikern regiert zu werden, die nicht für ihre Sätze bürgen, ja oft nicht einmal einen schönen Satz formulieren können. Von mir aus sollen sie mich belügen, aber sie sollen es wenigstens überzeugend tun können (lacht). Es kann doch nicht die einzige Vision sein, eine Wahl zu gewinnen. Kann das das Ziel sein? Niemand sagt: „Kommt mit uns! Wir werden einen großen Schritt in Richtung Europa machen. Wir werden etwas Großes beginnen!“

Sie sind sozusagen ein „Vorzeigemigrant“. Kommen nicht Politiker zu Ihnen und klopfen Ihnen vor Publikum auf die Schulter?

Ja, das gibt es von fast allen Seiten. Die Gefahr instrumentalisiert zu werden ist sehr groß. Es beginnt damit, dass ich zu
Veranstaltungen eingeladen werde. Aber für einen Schriftsteller ist die Autonomie sehr wichtig, damit er glaubwürdig bleibt.
Ich mache niemals bei Wahlveranstaltungen mit, mittlerweile auch kaum mehr bei Diskussionen. Was ich zu sagen habe,
sage ich in meinen Werken. Ausnahmen mache ich nur, wenn ich Flüchtlingen helfen kann. Das bin ich ihnen aufgrund
meiner eigenen Geschichte schuldig.


Es gibt derzeit in Österreich den Konflikt des „christlichen Abendlandes“ gegen den Islam, zumindest wird es so dargestellt. In
Bulgarien gibt es im Gegensatz zu Österreich eine türkische Minderheit, die bereits seit Jahrhunderten im Land lebt. Wie
gestaltet sich dort das Zusammenleben? Ist dort der Islam auch das Feindbild Nr. 1?


Eigentlich würde ich sagen, dass es hier keine Parallelen gibt. Wenn in Österreich so viele Türken leben würden wie in
Bulgarien, dann wäre FPÖ-Chef Strache hier längst an der Macht. Bulgarien hat EU-weit den größten Anteil an Moslems.
Sie haben auch eine eigene Partei, die im Parlament vertreten ist. Wenn man sich Bulgarien mit all seiner Armut und Konflikten vor Augen hält, gibt es gegenüber Türken keine großen Ressentiments. Den größten Konflikt gab es Anfang der achtziger Jahre, aber dafür waren die Kommunisten verantwortlich. Sehr wohl unter Rassismus leiden allerdings die Roma in Bulgarien.


Woher kommt in Österreich und generell in Westeuropa diese Angst vor den Türken und dem Islam?


Ich habe keine Antwort, die das umfassend erklären könnte. Vielleicht hat das mit dem 11. September zu tun, es ist eine Projektion. Vielleicht ist es auch im Interesse der Macht, dass Menschen Angst vor dem Islam haben. Diese Angst lenkt von der
Krise des Kapitalismus ab.

Es gibt aber gerade von wirtschaftlicher Seite sehr positive Signale. Die Wirtschaft und Industrie hat eigentlich einen sehr
positiven Zugang zu Migration.


In der Wirtschaft geht es immer um Effizienz. Ein billiger Arbeiter, der genauso gut arbeitet wie ein teurer, ist zu bevorzugen.
Also wenn es um niedrige Löhne geht und um Profit, dann ist die Wirtschaft nicht rassistisch. Handel auf rassistischer Ebene funktioniert nicht.


Wenn die wirtschaftliche Integration Europa keine Identität geben kann, was könnte es dann sein?


Es können nur Werte und Tugenden sein. Aber das ist politisch derzeit nicht zu sehen. In all diesen Debatten geht es nur um
Wirtschaft oder Feindbilder. Man muss eine geistige Debatte über Europa starten.

Wir führen aber höchstens Debatten um nationale Identitäten. In Frankreich wird etwa diskutiert: „Wer ist Franzose und was ist französisch?“


Ich will nicht mit einer „Ein-Bett-Zimmer-Identität“ leben. Ich will mich nicht nur als Österreicher oder als Bulgare fühlen
dürfen. Ich will etwas Großes. In einer Identität gibt es Platz für vieles. Was mich sozialisiert hat, was ich bewundere, woraus
ich lerne, das sind die großen geistigen Leistungen der Menschheit und nicht nur die eines einzigen Landes. Man könnte
Europa als eine Föderation sehen. Amerika ist auch eine. Mancher ist ein Texaner oder von der Westküste und dann ist
doch jeder auch Amerikaner. Es geht um Bewusstseinsbildung und auch hier landen wir wieder beim Versagen der Eliten.
Bestimmte Sachen können nur von „oben“ durchgesetzt werden. Wir werden es nicht erleben, aber ich bin überzeugt, dass der erste Europäer irgendwann geboren wird.


Sie haben in einer Rede gemeint, dass Kultur immer einer Auseinandersetzung mit dem Fremden bedarf. Wie intensiv ist diese
Auseinandersetzung mit dem Fremden in Wien?


Diese Auseinandersetzung findet ununterbrochen statt, nur wird sie nicht anerkannt. Ich habe früher als Restaurateur
gearbeitet und die meisten Restaurateure waren keine Österreicher. Jene, die die österreichische Kunst erhalten, sind also keine Österreicher. Wenn man sich die Baustellen anschaut und die Straßenarbeiter, dann sind das großteils auch Migranten. Es ist ein Vorgang, der ununterbrochen stattfindet. Und die Politik muss endlich Konturen zeigen, man kann sich nicht an allen Themen vorbeilavieren.


Wie weit reicht Ihre persönliche Verantwortung in diesem Identitätsstiftungsprozess, als Schriftsteller oder einfach nur als Mensch?


Das „Ich“ ist verantwortlich für alles. Ich glaube an die Macht des Einzelnen. In dieser Verantwortung kann mich keiner
ersetzen. Ich bin immer gefordert zu reagieren, auch auf der Straße. Und wenn ich das nicht mache, dann habe ich versagt. Es
geht nicht darum, ob ich Schriftsteller bin oder nicht. Ich habe den Vorteil, dass ich über bestimmte Vorgänge schreibe, aber
es entschuldigt mich nicht, wenn ich im Alltag anders reagiere. Diese Verantwortung hat man jeden Tag. Ich glaube, dass es nur
aus dieser Verantwortung heraus möglich ist, diese Ressourcen an Barmherzigkeit zu aktivieren. Dass etwa Menschen, die gerade aus einem fremden Land gekommen sind, in dieser Gesellschaft überleben. Dass sich jemand um jene kümmert, die per Gesetz gar nicht hier willkommen sind. Darum geht es.

Das Interview zusammengefasst hat biber-Redakteurin Marina Delcheva.

 

Wer ist Dimitré Dinev?
„Würstel verkauft und geschrieben“
Dimitré Dinev lebt als freier Schriftsteller in Wien. Seinen literarischen Durchbruch
schaffte der Österreicher 2003 mit seinem Familienroman Engelszungen, der europaweit
mit großem Interesse aufgenommen wurde. Großen Erfolg hatte auch das Theaterstück
„Das Haus des Richters“, das 2007 im Akademietheater aufgeführt wurde. Der überzeugte
Europäer wurde 1968 in Plovdiv, Bulgarien, geboren. Er maturierte 1987 am deutschsprachigen
Bertolt-Brecht-Gymnasium. 1990 floh der Schriftsteller nach Österreich, wo er sich
mit Gelegenheitsjobs durchbrachte und in Wien Philosophie studierte.
In einem Interview meinte der Schriftsteller einmal: „Ich habe auf Baustellen gearbeitet,
ich war Gärtner, ich war Kellner, ich habe in Casinos gearbeitet, Würstel verkauft, hin und
wieder habe ich auch Übersetzungen gemacht, dann war ich Restaurator und Vergolder.
Ich habe ‚gehackelt‘, wie man in Österreich sagt, acht bis zehn Stunden pro Tag. Danach
bin ich nach Hause gekommen und habe mich schlafen gelegt. In der Nacht bin ich
aufgestanden und habe geschrieben.“

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