Eine Anti-Erdogan-Haltung rechtfertigt keinen Putsch

18. Juli 2016

Liebe alle, was ich derzeit alles über die Situation in der Türkei lese, lässt mich verzweifeln. Auf der einen Seite autochthone ÖsterreicherInnen, die sich für die Türkei den Putsch gewünscht hätten (komischerweise kenne ich de facto keinen Menschen mit Wurzeln in der Türkei - egal ob links oder rechts - der sich einen erfolgreichen Putsch gewünscht hätte)...


 

...Dann das Siegesgeheul der AKP-SympathisantInnen.

Ja, es gab einen Putschversuch, ja, ALLE Fraktionen im Parlament haben sich gegen den Putsch gestellt. MandatarInnen aller Fraktionen sind im Plenarsaal gesessen und haben die Präsenz des Volkes im Parlament gezeigt, als dieses bombardiert wurde. Wenn man so etwas Historisches erlebt, sollte man demütig sein. Man sollte versuchen, alle Menschen einzubinden. Man muss ermitteln und man muss allen Tätern einen fairen Prozess zukommen lassen. Zu sagen, man habe die Demokratie beschützt, aber die Rechte von (mutmaßlichen) Tätern mit Füßen zu treten geht nicht. Sogar Massenmörder verdienen faire Prozesse und davor eine menschenwürdige Behandlung in einer Demokratie. 

Erdogan, Putsch, Türkei
Emrah Gurel / AP / picturedesk.com

Revanchismus hat keinen Platz in der Demokratie. Gerade die Vorkommnisse am letzten Wochenende haben gezeigt, wie wichtig funktionierende demokratische Strukturen sind. Diese darf man auch für den eigenen Machterhalt nicht noch weiter aushöhlen. Warum die tausenden RichterInnen nach einem Putschversuch vom Dienst suspendiert worden sind, wird sich hoffentlich noch klären. (Wenn diese Menschen keine Gesetze gebrochen haben reicht der Vorwand "sie stehen jemandem nahe" nicht.)

Dann die Verschwörungstheorien:
Auch hier gilt: keine voreiligen Schlüsse! Wenn man es nicht beweisen kann, bitte still sein. Was da in den sozialen Medien gepostet wird ist zum Haareraufen. Und damit verpufft sogar die berechtigte Kritik. Wie soll man auch unterscheiden, welche Nachricht jetzt frei erfunden ist und welche stimmt, welches Bild wirklich die Realität wiedergibt und welches bearbeitet worden ist oder einfach nicht die Situation der letzten zwei Tage wiedergibt. Jede aufgedeckte erfundene Geschichte verunmöglicht, Kritik glaubhaft auszusprechen.

Ich befürchte, dass der Spalt, der derzeit durch die türkische Gesellschaft geht, nicht mehr gekittet werden kann. Die Schimpfwörter in den sozialen Medien gegenüber jenen, die etwas gegen die eigene Überzeugung behaupten, sind ungeheuerlich. "Ich fic..e all jene, die sich Gedanken um geprügelte Soldaten machen, aber nicht an die Toten am Freitag denken" - WTF? Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Aber diese Beschimpfungen gehen in beide Richtungen. Ich vermisse einfach eine normale und vernünftige Diskussion mit Menschen, die auch Fehler auf der eigenen Seite eingestehen können.

Ich bin derzeit etwas sprachlos und ich hoffe, dass ich mich mit meinem letzten Absatz täusche. In einem funktionierenden sozialen Gefüge muss man nicht einer Meinung sein, aber man sollte Respekt vor anderen Menschen haben.

 

Und bitte, bitte, bitte: Unterlasst auf Kundgebungen und Demonstrationen die "Allahu akbar" Rufe. Ja, Gott ist groß. Er weiß es, ohne dass wir es auf Demos rufen. Wir rufen es vor dem Gebet, um zu begreifen, dass unser Ego nicht das Größte ist. Dass wir uns im Gebet etwas unendlich Großem unterwerfen und wir nicht einmal ein Sandkorn in der Schöpfung sind. Bitte lassen wir das nicht zu etwas so banalem verkommen, dass wir es in aufgeheizter Atmosphäre wie Fußball-Hooligans auf der Mariahilferstraße brüllen.

 

Mustafa
privat

Zum Autor: Mustafa Yenici, Wiener mit türkischen Wurzeln, arbeitet im Büro für Integrations- und Diversitätspolitik der SPÖ Wien.

 

 

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