Gastkommentar: DARBE geht uns alle was an

19. Juli 2016

Der gescheiterte Putsch sorgt auch hier für Diskussionen und absurde Verschwörungstheorien. Doch die Wenigsten gedenken den Opfern.


Darbe heißt das türkische Wort für Putsch und kaum ein Begriff löst so viel Emotionen unter Türken aus. Von den Coups der Vergangenheit ist kaum eine Familie unberührt geblieben. Menschen haben entweder am eigenen Leib die Brutalität der Militärjunta erfahren, oder sind mit schockierenden Geschichten von Eltern, Tanten und Onkeln aufgewachsen. Aus Angst vor Destabilisierung und Bürgerkrieg, schlugen sich in der Vergangenheit die meisten Menschen dennoch auf die Seite der Militärs. In der Nacht des 15. Juli entschieden sie sich anders.

Inzwischen tauchen immer mehr authentische Videos von der Putsch-Nacht auf, die zeigen, wie Menschen von Soldaten erschossen oder von Panzern regelrecht zerteilt wurden. Insgesamt sind 145 Zivilisten ums Leben gekommen. Wer trotzdem glaubt, dass die Putschisten friedliebende Demokraten sind, weil sie sich gegen Erdogan stellten, sollte sich die Erklärung der Junta genauer anschauen. Dort versprechen sie einen effektiveren Kampf gegen „jegliche Art von Terrorismus“ und die Auslöschung aller „Sicherheitsrisiken“ innerhalb der Türkei.

Erdogan, Putsch, Türkei
Depo Photos / Zuma / picturedesk.com

Nur Merkel und Tsipras mit klaren Worten

Wenn man aber das Geschehen über die internationalen Medien verfolgt hat, zeichnete sich ein ganz anderes Bild ab. In der New York Post und in der renommierten Foreign Policy, veröffentlichte der ehemalige Pentagon-Mitarbeiter und Sicherheitsexperte Michael Rubin noch in der Nacht des 15. Juli gleich zwei Artikel, wieso ein Putsch normalerweise nicht wünschenswert ist, aber im Falle der Türkei zu begrüßen sei. In den europäischen Medien herrschte ein ähnlicher Ton.

Die internationalen Reaktionen kamen teilweise spät und waren selten solidarisch. Auch hier wurde der Coup kleingeredet und man könnte glauben, die zivile Bevölkerung hätte gegen das Militär geputscht. Die deutlichsten Worte fanden Angela Merkel und Alexis Tsipras. Für Merkel ist die Stabilität der Türkei ein wichtiges außenpolitisches Anliegen. Tsipras hingegen weiß aus der griechischen Geschichte, was eine Militärjunta anrichten kann.

Der "Darbe" liegt den Menschen im Mark

Erdogans Mobilisierungspotenzial und die Traumata der vergangenen Putsche haben die Menschen ermutigt auf die Straße zu gehen. Nicht nur die Demonstranten haben Mut bewiesen, sondern auch Journalisten, die sich trotz ihrer regierungskritischen Haltung weigerten, die Putsch-Erklärung zu verlesen. Die Angst vor einem darbe liegt nicht nur Erdogan-Anhängern im Mark. Schließlich haben in der Vergangenheit Linke und Minderheiten am meisten unter der Herrschaft der Generäle gelitten. Deswegen haben alle Parteien geschlossen den Putsch verurteilt, ohne ihre kritische Haltung gegenüber Erdogan aufzugeben.

Der 15. Juli ist ein weiteres blutiges Kapitel in der langen darbe-Geschichte der Türkei und sollte nicht relativiert werden. Die schrecklichste und gefährlichste Emotion, die ein darbe in Menschen auslöst, ist Machtlosigkeit. Das Gefühl, dass sie nicht über ihr eigenes Schicksal bestimmen können, kann ganze Gesellschaften ruinieren. Das sollte man nicht vergessen, wenn man aus sicherer Entfernung glaubt zu wissen, was für die Menschen in der Türkei oder woanders am besten ist.

Ali Cem Deniz ist Politikredakteur bei FM4. Im Herbst erscheint sein Buch "Yeni Türkiye - Die neue Türkei" über die politische Geschichte Türkeis und Erdogans Aufstieg im Promedia-Verlag.

Bereich: 

Das könnte dich auch interessieren

Collage: Zoe Opratko
   Keine Bevölkerungsgruppe wird in...

Anmelden & Mitreden

3 + 6 =
Bitte löse die Rechnung