Heimaturlaub zwischen Flüchtlingslagern

02. Juli 2020

Während die Balkan-Community „runter“ auf Urlaub fährt, sitzen tausende Geflüchtete im Grenzland zwischen Bosnien-Herzegowina und Kroatien fest. Mein letzter Heimatbesuch hinterließ einen bitteren Beigeschmack.


Von Amra Durić

Flüchtlingskrise statt Heimaturlaub
Eine Wohnsiedlung in Bosnien und Flüchtlinge, die oft um nur „eine Mark“ betteln kommen (Foto: Antonio Bronic/Reuters)

Bereits während wir an der kroatisch-bosnischen Grenzkontrolle im Stau stehen, können wir sie sehen. Viele stehen rum, einige sitzen auf dem Boden. Doch sie alle kommen keinen Schritt weiter. In Bosnien und Herzegowina stecken derzeit rund 8.000 Flüchtlinge und Migranten fest, die immer wieder versuchen, nach Kroatien weiterzukommen. Vergeblich. Die kroatische Polizei greift mittlerweile Menschen regelmäßig an der Grenze auf und bringt sie ohne jede Formalie und unter Anwendung roher Gewalt nach Bosnien zurück. Seit Neuestem ist es sogar NGOs und Freiwilligen verboten, die Flüchtenden mit Nahrung oder anderen Hilfsmitteln zu versorgen. Und das in jenem Land, aus dem ein Großteil unserer Familie flüchten musste. Einmal im Jahr fahren wir in unser Haus nach Čehići „runter“ – 35 Kilometer von der bosnisch-kroatischen Grenze entfernt. Das erste Mal, als wir das Ausmaß der Flüchtlingskrise gesehen haben, war 2019. In einem Vorort der Stadt Bihać gibt es ein Hotel, das direkt am Fluss Una liegt, wo man baden kann. Dort haben wir schon oft schöne Nachmittage verbracht. Als wir letztes Jahr wieder hinfahren wollten, fanden wir statt dem Hotel eine Flüchtlingsunterkunft vor. „Bald sind sie auch bei uns im Ort“, sagte meine Mutter fassungslos, während wir schließlich Richtung Bihać weiterfuhren. In der Stadt angekommen, beschlossen wir etwas Essen zu gehen. Die Hitze war kaum auszuhalten. „Gehen wir in ein Restaurant, das am Wasser liegt, dort ist es hoffentlich etwas kühler“, schlug Mama vor.

FLÜCHTLINGSKRISE ZUM MITTAGESSEN
Schnell sollten wir erkennen, dass unser Mittagessen einen bitteren Beigeschmack haben würde. Denn während wir auf der Terrasse des Restaurants Platz nahmen und vor uns Fleisch- und Fischplatten aufgetischt wurden, blickten wir nicht nur auf den glitzernden Fluss, sondern auch auf Dutzende Männer, die auf Plastiksackerln im Gras saßen. Das Bild sorgte am Mittagstisch für eine angespannte Stimmung. Meine Mutter fühlte sich sichtlich unwohl. „Es ist beängstigend“, sagte sie. „Ich verstehe nicht, warum die ausgerechnet nach Bosnien kommen.“ Uns Geschwistern lag nicht nur das Essen schwer im Magen. Wir versuchten ihr zu erklären, warum die Männer aus Pakistan und Afghanistan in Bosnien festsitzen. Gerade in Bosnien. In einem Land, in dem der Krieg so tief verwurzelt ist und der Anblick von zerschossenen Hausmauern bei vielen heute noch schmerzhafte Erinnerungen hervorholt. „Die meisten jungen Leute schauen, dass sie irgendwie ins Ausland kommen und dort eine Arbeit finden. Gerade hier am Land ist Geld zu verdienen irrsinnig schwer. Aber auch in Städten wie Sarajevo ist es nicht einfach“, erzählte unsere Cousine Jasmina. Sie hat in Bihać studiert und arbeitet seit einigen Jahren in Cazin als Lehrerin. Wenn die Schule wegen einem Streik schließt, oder die Schüler zu Hause bleiben müssen, weil im Winter die Heizung mal wieder ausgefallen ist und die Schule sich kein neues Modell leisten kann, sitzt auch Jasmina zwangsweise daheim, aber ohne Bezahlung. „Wenn es schon für Einheimische schwer ist hier zu leben, wie muss es erst für diese Flüchtlinge sein?“. Später am Abend saßen wir bei Mamas Cousin Nedžad. Er grillte auf seiner selbst gebauten Terrasse.

Flüchtlingskrise statt Heimaturlaub
Foto: Dado Ruvic/Reuters


EINHEIMISCHE VERÄNGSTIGT, REGION ÜBERFORDERT

Die Stimmung während der Grillerei war wieder etwas ausgelassener, bis plötzlich ein Hubschrauber über uns kreiste. „Die fliegen jeden Abend über der Grenze, wegen den ganzen Flüchtlingen,“ erklärte uns Nedžad. Schon drehte sich unser Gespräch wieder um die geflüchteten Männer und unbegleiteten Minderjährigen. „Sie gehen jeden Tag zur Grenze, die, die es nicht schaffen und nicht verletzt werden, gehen zurück in die Stadt. So geht das den ganzen Tag, jeden Tag“, erzählte er. Durch das Gespräch merkten wir, dass bei der
älteren Generation, die den Großteil der Bewohner bei uns im Ort ausmacht, das Mitgefühl durch Angst in den Hintergrund gerückt wird. So auch bei der Mutter unseres Stiefvaters, die „unten“ lebt. Beim Kaffee erzählte sie besorgt: „Ich sehe diese Männer jeden Tag an meinem Haus vorbeigehen. Deshalb sperre ich jetzt auch tagsüber die Tür zu.“ Angst und Ungewissheit begleiten Bosnien seit Jahrzehnten. Für Einheimische und Flüchtlinge sind sie der gemeinsame Nenner Angst, weil man weiß, dass der Staat Probleme immer wieder ignoriert. Ungewissheit, wie das Leben in Bosnien weitergeht. Durch die Pandemie hat sich die Lage der Flüchtlinge zwar verschlimmert, sie zählt aber nicht zu ihrem größten Problem. Die Lager sind voll, die Region überfordert. Keine Toilette, keine Dusche, kein Platz. Viele leben mittlerweile im Wald. Das Absurde daran: Gleichzeitig stehen unzählige Häuser diesen Sommer leer, da viele, die wie wir in Österreich leben, wegen Covid-19 nicht nach Bosnien reisen dürfen. Nach einer Woche in der anderen Heimat ging es für uns schließlich wieder nach Österreich. An der Grenze staute es sich, die Hitze war kaum auszuhalten. An unserem Auto ging ein barfüßiger Mann vorbei und klopfte an die Scheibe. „Bitte eine Mark“, sagte er auf Bosnisch und faltete dabei die Hände vor dem Gesicht. In gebrochenem Bosnisch erzählte er, dass er aus Afghanistan geflüchtet ist. Wir gaben ihm unsere restlichen Mark und mussten schließlich weiterfahren. Zurück blieb ein mulmiges Gefühl. Seither waren wir in Bosnien nicht mehr auf Heimaturlaub. Es ist grundsätzlich etwas seltsam, in ein Land, aus dem unsere Familie selbst geflüchtet ist, auf Urlaub zu fahren. Fast unerträglich ist es, zu wissen, dass nun genau dort geflüchtete Menschen unter grauenvollen Bedingungen festsitzen. Und dass sich niemand verantwortlich fühlt.

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