Mama hat Angst, wenn ich nach Istanbul fliege

19. März 2014

 

Wenn man die Türkei als Schwellenland bezeichnet, ist das für viele ein Hohn, aber in der Türkei passt gerade so einiges nicht. Wenn sogar meine Mutter mir verbieten will, in Istanbul Urlaub zu machen, nur weil dort zufällig grad Wahlen sind, dann stimmt da so einiges nicht!
 

Ich bin wie viele meiner Freunde sehr gespalten, wenn es um Politik geht. Die Gezi-Bewegung in der Türkei hat, wie schon im biber beschrieben , meine Freunde und Facebook-Liste in zwei Lager geteilt. Seitdem ist aber noch viel mehr passiert. Die Regierung hat weitere Demos mit Todesopfer zerschlagen. Gesetze, die Bürgerrechte mindern, wurden erlassen. Die Internetkontrolle wurde verstärkt. Und ein neuer Kampf zwischen Fetullah Gülen und Erdogan ist entfacht. In Zuge dieser Streitigkeiten zwischen der AKP und der Cemaat-Bewegung bröckelt die Fassade. Korruptionsvorwürfe gegen sämtliche Minister und Familienangehörige kamen ans Tageslicht. Heikle Telefongespräche zwischen Erdogan und seinem Sohn, wo es um Millionbeträge ungeklärter Herkunft geht, wurden geleaked.

 

Keine Antwort ist auch eine Antwort

Die Antwort von Ministerpräsidenten Erdogan war leider nicht die lückenlose Aufklärung, sondern Versetzung von hunderten Polizisten der Abteilung Finanzkriminalität sowie dutzender Richter und Staatsanwälte. Nach Rücktritten und Verhaftungen in Erdogans Umfeld bildete er sein Kabinett um. So wurden 10 von 26 Posten neu besetzt. Nicht gerade die beste Optik, wenn Erdogans Partei unter dem Namen „Gerechtigkeit und Entwicklung“ das Vertrauen des Volkes gewinnen wollte. Nun kommt es fast täglich zu Skandalen rund um Erdogan. Mal möchte er die Medien zensurieren, mal dementiert er die Echtheit der Aufnahmen, mal bezeichnet er sich als abgehörtes Opfer. Es scheint so, als würde ihm die Sache über Kopf und Kragen wachsen. Im Zuge dieser Korruptionsvorwürfe wurden auch Journalisten und Ex-Generäle entlassen, die unter Erdogans Regierung verhaftet worden waren. Die belastenden Beweise gegen die Militärs wurden anscheinend manipuliert.

 

Hochmut kommt vor dem Fall

Seine großartige Rolle als souveräner Politiker hat Recep Tayyip Erdogan in weiten Teilen des Landes verloren, aber seine konservativen Anhänger bleiben ihm treu und winken jeden neuen Skandal als Verschwörung oder als Versuch, ihm schaden zu wollen, ab. Immer wieder werden seine guten Taten zum Thema gemacht und nicht hinterfragt. Millionen von Menschen spielen die „drei weisen Affen“ und fiebern dem 30. März entgegen, um zu beweisen wie sehr sie hinter ihren Ministerpräsidenten stehen, der mittlerweile scheinbar überall seine Finger im Spiel hat.  Ich werde meiner Mutter wohl das Herz brechen, die Gefahr auf mich nehmen und trotzdem genau an diesem Datum in Istanbul sein. Ich werde mit vielen Personen sprechen, werde versuchen, Stimmen einzufangen und die Atmosphäre mitzubekommen. Ich hoffe, ich werde von keiner Gaskartusche, wie der 15-jährige verstorbene Berkin, am Kopf getroffen. Dann wäre das wohl mein letzter, höchstsubjektiver Kommentar.

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