Meine fremden Haare

24. November 2016

Sobald sie heiraten, werden ihre Haare „heilig“. Nur der Ehemann darf sie noch sehen. Deshalb tragen orthodoxe Jüdinnen Perücken – und im Hochsommer Kopftuch. Zwei junge Frauen sprechen über ihre fremden Haare.

Von Delna Antia und Marko Mestrovic (Fotos)

 

Ihre Haare glänzen. Kastanienbraun, lang bis zur Brust, schwungvoll gestuft. Eine schöne Umrahmung für ihr Porzellangesicht. Diese Haare haben sie 2000 Euro gekostet.

Rachel* ist 29 und trägt Perücke, seitdem sie verheiratet ist. Das war vor 9 Jahren. Wie für ihre Mutter, Großmutter, Schwester und Freundinnen ist das Tragen einer Perücke etwas ganz selbstverständliches. Rachel ist Jüdin. Es ist Brauch, dass orthodoxe Frauen ab der Hochzeit nur mehr ihrem Ehemann die eigenen Haare zeigen. Vor den Blicken von anderen Männern werden sie verborgen. Mit Haaren von Fremden, oder mit Kopftuch.

 

Ich lerne Rachel im Fitnessstudio kennen. Während sie das Laufband mit kräftigen Schritten bezwingt, trägt sie ein rotes Kopftuch, simpel umgebunden, es sieht sportlich aus. Ich denke mir nichts. In der Umkleide kommen wir zufällig ins Gespräch. Wir stehen vor dem Spiegel, ich trage gerade Mascara auf und denke noch, dass wir recht ähnliche Locken haben, sie trägt sie nur kürzer, da stutze ich plötzlich und haue mir die Tusche daneben. Rachel steht neben mir, nur jetzt mit wallender, glatter Mähne. Eine komplett andere Frau.

Koscher Haare, Perücke
Marko Mestrovic

 

Alltagshaare und Designer-Perücken

Ihr Mann wollte nicht, dass sie sich für diesen Artikel mit ihren Perücken fotografieren lässt, aber wir treffen uns zum Interview, unter der Voraussetzung, dass ich ihren Namen ändere. Rachel erzählt mir von ihrem Leben. Dass sie in Wien geboren wurde, auf die jüdische Schule ging, einen jüdischen Ungarn geheiratet hat, dass sie sich zu ihren vier Kindern ein fünftes wünscht und dass sie noch nie in ihrem Leben gearbeitet hat. Sie erklärt mir lachend, dass sie zu spät gekommen ist, weil sie nicht mehr wusste, auf welcher Seite des Rings das Museumsquartier und die Mariahilferstraße liegen, da sie so selten in der Gegend ist. „Ich kann hier eh nichts essen“, sagt Rachel. Natürlich, im MQ ist das Essen nicht koscher.

Für die Fotos gibt sie mir den Kontakt von Daniela. „Die ist da cooler.“ Nun, auf jeden Fall ist Daniela offen dafür. Beim Fotoshooting erzählt die 20-jährige Daniela, dass sie sich erst schwer an das Tragen einer Perücke gewöhnt hat. Vor allem bei dem heißen Sommerwetter. Da trägt sie Kopftuch. Auch Rachel macht das so, wie die meisten Jüdinnen. Bei über 30 Grad im Schatten sind übergestülpte, fremde Haare einfach „Selbstmord“.

 

Daniela erklärt, dass das jiddische Wort für Perücke „Scheitel“ ist. Es gibt „Bandscheitel“, die knapp hinter dem Haaransatz aufgesteckt werden und je nach Laune, oder passend zum Outfit mit verschiedenen Haarbändern am Übergang vom echten zum falschen Haar getragen werden. Diese Bandscheitel sind meist die „Alltagshaare“ der Jüdinnen. Der „Vollscheitel“ ist dagegen teurer. Daniela setzt ihren, eine Designer-Perücke aus Jerusalem – Kostenpunkt 1000 Euro –, nur bei Feierlichkeiten auf.

Koscher Haare, Perücke
Marko Mestrovic

Die meisten Jüdinnen besitzen zwei Scheitel, einen für jeden Tag, einen für besondere Anlässe. Scheitel bekommt man ab 500$ aufwärts, für Top-Qualität muss man zwischen 1000 – 2000$ hinlegen. Es kommt aber auch auf die Länge der Haare an. Die Perücken gibt es in verschiedenen Größen – small, medium, large – und natürlich werden sie auch auf Kopfmaß angepasst. Rachel kommt aus wohlhabender Familie, sie besitzt sechs Perücken. Die lange, kastanienfarbene ist ihre neuste Errungenschaft aus Jerusalem. Überhaupt, in Österreich würden weder sie noch Daniela eine Perücke kaufen. Gute Orte seien neben Jerusalem auch New York und Antwerpen. Nicht zuletzt müssen die Scheitel auch koscher sein, schreibt die Jüdische Allgemeine Wochenzeitung. So sind Perücken aus Indien nicht erlaubt, da sich religiöse Hindi die Haare scheren und das Gesetzt verbietet, von einer Tat zu profitieren, die einem anderen Gott gewidmet ist. In China werden Perücken mit „Koscher-Zertifikaten“ hergestellt. Es verschiedene Knüpfarten, ob Pony vorne, links oder rechts. Mit sogenannten „Multi-Direction-Skins“, also einer Kopfhaut, auf der die Haare so geknüpft werden, dass sie in jede Richtung fallen können. Festgemacht werden sie mit Kämmen an den Seiten.

 

Angesichts dieses Haar-Kunsthandwerks scheint es nur verständlich, dass die Scheitel ein Heiligtum für ihre Besitzerinnen bedeuten. Für das Fotoshooting leiht Rachel ausnahmsweise eine ihrer Perücken her. Denn Daniela, gerade einmal neun Monate verheiratet, besitzt nur zwei. Normalerweise würden Jüdinnen untereinander nicht mal eben „Scheitel“ tauschen – auch aus hygienischen Gründen. Wie im echten Haarleben müssen auch die fremden Haare gewaschen und gepflegt werden. Alle vier Wochen, vorsichtig, mit Shampoo und allem, was dazu gehört. „Ich kann das selber machen, weil ich eine Friseur-Ausbildung in Israel gemacht habe“, sagt Daniela, „aber die meisten Frauen lassen das beim Friseur professionell erledigen“. Schließlich kriegen auch Perückenhaare Spliss. „Circa vier Jahre hält eine Perücke, wenn ich sie jeden Tag und bei Wiener Wetter trage“, erklärt Rachel. In Israel sehen die Friseurläden daher ganz anders aus. Abgedunkelte Fenster statt Glasfronten wie bei uns, nur Frauen arbeiten dort und kümmern sich dann um das eigene Haar ihrer Klientinnen wie um das „fremde“.

 

Nicht auffallen

Daniela hatte vor ihrer Hochzeit blonde Haare bis knapp zum Po. Dann schnitt sie sie kurz. Inzwischen gehen ihre echten Haare wieder bis zu den Schultern. „Nach der Kabbala erhalten die Haare einer Frau, sobald sie heiratet, eine besondere Heiligkeit, die nur ihr Ehemann sehen darf.“ Dass „frau“ dann zur Perücke in der Geschichte griff, statt einfach per Tuch oder Hut zu verbergen, hat antisemitische Gründe. Sie wollten als Jüdinnen nicht erkannt werden. Auch heute wollen sie nicht auffallen, weniger aus Angst vor Antisemitismus als aus gesellschaftlichen Gründen. „Generell sind Österreicher, oder überhaupt Europäer nicht offen für neue Sachen. Es ist hier hart, anders zu sein. Man probiert so stark wie möglich, nicht aufzufallen“, sagt Daniela und fügt hinzu: „Lange Ärmel im Hochsommer sind schon auffällig genug“.

 

Daniela gehört zu den „modern-orthodoxen“ Jüdinnen, sie hat nackte Beine und Sandalen, ihr Rock geht knapp bis zum Knie. Sie ging nicht auf die jüdische Schule und studiert heute Geige in Wien. Große Berufspläne hat sie auch: Mit ihrem Mann würde sie gerne nach Kalifornien ziehen und dort im Orchester von Walt Disney arbeiten. „Generell sollten aber Knie, Ellbogen und das Dekolletee unterhalb des Schlüsselbeins verdeckt sein.“

 

Nackte Knie oder blickdichte Strumpfhosen?

Am liebsten würde Daniela keine fremden Haare tragen. „Warum, ich habe ja meine eigenen?!“ Im Gegensatz zu den ultra-orthodoxen Juden, wo die Männer im schwarz-weißen Gewand mit den typischen „Löckchen“ herumlaufen und für Frauen der Scheitel ein Pflichtprogramm aus Tradition ist, sieht Daniela die Bräuche freier. Als Modern-Orthodoxe möchte sie das Kopftuch wieder neu für sich entdecken und es auf schöne, aufwändige Weise binden. Daniela gibt mir den Website-Link „Wrapunzel.com“ mit,  auf dem eine Jüdin verschiedene Bindetechniken vorstellt und zeigt, dass man auch mit Kopftuch hübsch aussehen kann.

 

Bei Rachel ist das anders. Sie trägt zwar keine Perücke im Hochsommer – „sonst komm ich um“ – aber trotzdem blickdichte Strumpfhosen. Rachel würde sich nicht als ultra-orthodox bezeichnen, findet eher, dass jeder macht, wie er meint. „Das ist individuelle Auslegungssache und klar, Daniela ist da schon cooler als wir.“ Aber sie ist eine stolze und reflektierte Frau, die sich darauf freut, bald ein „Business“ ihres Manns übernehmen zu dürfen und dann das erste Mal in ihrem Leben zu arbeiten. Und sie gibt offen zu, dass sie ihre Kinder bewusst strenger erzieht, als sie selbst aufgewachsen ist. Kein Fernsehen, kein Essen, das nicht koscher ist. Aber halb so tragisch, in Wien gibt es inzwischen sogar koscheres „Magnum“-Eis, lacht sie. In ihrer Kindheit gab es gerade einmal eine Käsesorte in Wien, die sie essen durfte.

Den „Unternehmer-Geist“ besitzt auch Daniela. Sie arbeitet neben ihrem Musikstudium am Aufbau einer Franchise-Firma für Perücken in Wien. Sie möchte „Designer-Scheitel“ aus Jerusalem für Jüdinnen hier günstig erschwinglich machen.

 

Fragt man die beiden Frauen nach der Logik der Perücke, die ja oft die Gesichter hübscher macht, also „reizvoller“ für das männliche Auge, als mit echtem Haar oder mit Kopftuch, antworten sie zaghafter. Rachel bekennt sich „schuldig“: „Es ist meine Schwäche, mein Fehler. Das weiß ich. Aber ich will schön sein“. Ihr Mann hätte nämlich nichts dagegen gehabt, wenn sie sich eine weniger schöne Perücke, als die Kastanien-Mähne zugelegt hätte. Und Daniela argumentiert, dass jüdische Männer stets erkennen würden, ob eine Frau Perücke trägt oder nicht, und damit sehen, wenn sie vergeben ist. „Das ist wie mit Eheringen. Die schrecken ja auch ab.“ Dass aber Eheringe eine Frau nicht annähernd so „verschönern“ können, wie eine volle, glänzende Haarmähne, sieht sie jedoch ein.

 

Eine Woche nach unserem Treffen im MQ begegne ich Rachel zufällig wieder im Fitnessstudio. Jetzt sehe ich sie mit anderen Augen – ihr Kopftuch, ihre wohlverdeckten Arme und Beine, die dunklen Farben. Ich freue mich sie zu sehen. Weil ich nicht mit zum „Bauch-Beine-Po“-Kurs kann, verabreden wir uns. Auf eine koschere Pizza mit Daniela.

Koscher Haare, Perücke
Marko Mestrovic

*Name von der Redaktion geändert.

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