Meine Großfamilie und ich.

12. Dezember 2016

Privatsphäre? Ruhe? Eigentum? – Für Kinder in Großfamilien sind das Wunschträume. Auf der anderen Seite: Alleine fühlen sie sich nie. Was es heißt, fünf oder mehr Geschwister zu haben.

Von Abdullah Bag und Sara Shehata. Fotos: Marko Mestrović, Sophie Kirchner

Teil einer Großfamilie, also einer etwa achtköpfigen Familie, zu sein kann komplizierter sein als gedacht. Für jeden Tag steht ein Abenteuer an. Gemeinsam essen? Funktioniert nie, weil immer irgendjemand etwas zu tun hat. In Ruhe fernschauen? Kommt nicht in Frage, weil sich sechs Kinder um die Fernbedienung streiten. Pünktlich in die Schule? Wie soll das gehen, wenn man eine Stunde vor dem Badezimmer warten muss? Ein eigenes Zimmer? Du träumst. Woher bekommt man eine Wohnung mit sieben Schlafzimmern? 

In Österreich leben knapp 9.000 Großfamilien mit fünf oder mehr Kindern. Die Familien von Sara, Abdullah, Fatma und Furka gehören dazu. Für Biber erzählen sie, wie das so ist, wenn man zwei Hände braucht, um alle Familienmitglieder aufzuzählen.

 

Das Private ist öffentlich!

Sara (20),
insgesamt 6 Geschwister

„Nummer 5“

Foto: Marko Mestrovic
Foto: Marko Mestrovic

Ich habe mein Zimmer immer teilen müssen. Zuerst waren wir vier, später nur mehr zwei Mädchen in einem Raum. Die Tür wird aufgerissen, denn anklopfen gibt es bei uns nicht. Nichts liegt dort wo es liegen sollte. Die Kleidung teil ich mir mit meiner Schwester. Oder besser gesagt: Die Kleidung wird aus meinem Schrank entnommen. Als Letzte nachhause kommen geht klar. Aber ertrag den Hunger, wenn es heißt, das Essen ist aus. Der Kühlschrank ist immer voll und gleichzeitig auch immer leer. Familienausflüge gehen nur mit einem Bus. Außer wir sind in Ägypten, dann passen auch acht Personen in einen PKW. Alleine ist man nie. Von Privatsphäre keine Spur. Alleine telefonieren geht wenn, dann nur am Klo, weil in jedem anderen Raum mindestens zwei Ohren mithören werden. Auch wenn es manchmal „Privates“ zu besprechen gibt. Deine Geschwister lauschen lieber mit als das Zimmer zu verlassen.

Sachen, die mir täglich passieren, sind für die meisten Kinder sehr unglaubwürdig. Ja, es ist schon komisch jemandem zu erklären, dass man nie ungestört Gespräche führen kann. Denn auch am Klo gibt es den einen oder anderen, der genau in dem Moment sein Geschäft verrichten will.

Meine Geschwister sind einfach immer da und obwohl meine Privatsphäre so manche Lücken hat, ist es genau der Grund, wieso ich meine Familie liebe. Ich fühle mich nie alleine. Langweilig wird mir zuhause auch nie. Wenn ich krank bin, kümmern sich (fast) sieben um mich. Wenn ich keine Lust habe aufzuräumen, macht es (nach langem Hin und Her) meine Schwester für mich. Wenn ich ein Problem habe, ist immer jemand für mich da und steht hinter mir. (Manchmal) auch ohne eine Gegenleistung zu verlangen. Es ist mein Glück die Vorletzte zu sein, ich hab den Nesthäkchen-Bonus.

Keiner macht auf!

Abdullah,
insgesamt 7 Geschwister,

„Nummer 3“

 

Foto: Marko Mestrovic
Foto: Marko Mestrovic

 

„Ist das dein Ältester?“ fragt jemand meinen Vater und zeigt auf mich. Baba antwortet: „Nein, er ist Matrose Nummer 3.“ „Maschallah!“ erwidert der Unbekannte. Das höre ich jedes Mal, wenn ein Fremder meinen Vater nach seinen Kindern fragt. Ich lebe in einem Einfamilienhaus und habe sechs Geschwister.

Als eine Großfamilie erlebt man viele lustige Momente. Ich könnte da wochenlang Geschichten erzählen. Der Unterschied fängt schon an, wenn es an der Tür läutet. Besonders wenn das Wetter schlecht ist, kann es für die Person vor dem Eingang unangenehm werden. Nein, die Türglocke ist nicht kaputt. Das wirkliche Problem ist: Es gibt zu viele, die sie öffnen könnten. So läuft es im Haus nach dem ersten Läuten ab: „Aylin, mach die Tür auf bitte!“, ruft meine Mutter vom ersten Stock. „Anne, Ali sitzt jetzt der Tür näher als ich! Er soll sie aufmachen!“, antwortet meine Schwester in der Küche. Zweites Läuten. Ali verteidigt sich überzeugt im Wohnzimmer: „Ich habe schon letztes Mal aufgemacht. Jetzt sollten die anderen dran sein! Ich kann warten.“ Aylin konternd: „Hey, du bist der Tür näher und ich esse gerade! Also mach’s auf!“ Drittes Läuten. Mein Bruder Burak beginnt draußen vor dem Eingang schon zu klagen: „Nicht schon wieder?!“ Ali entschlossen: „Nein, ich spiele gerade Playstation! Hacer soll’s dann öffnen!“ Viertes Läuten. „Kann jemand von euch bitte endlich die Tür aufmachen?!“, jammert meine Mutter vom ersten Stock hinunter... Stille... „Ist niemand da zu Hause?!“, stöhnt mein Bruder draußen unruhig. Fünftes Läuten in Dubstep-Rhythmus: Dilara kommt aus dem WC heraus, fragt laut: „Was ist los hier?! Ist es so schwer kurz aufzustehen und die Tür aufzumachen?!“ Sie geht die Tür öffnen.

Dieses Drama wiederholt sich immer wieder und es ändert sich leider nicht. Ich stand natürlich selbst schon viel Zeit in meinem Leben vor der Haustür. Deshalb habe ich kreative Ideen entwickelt, wie ich die Zeit ausnutzen kann. Im Winter baue ich einen Schneemann und im Sommer gehe ich in den Schatten und mache Dehnübungen.

 

Bruderliebe tut weh!

Furkan (17), insgesamt fünf Geschwister,
„Nummer 3“

Foto: Marko Mestrovic
Foto: Marko Mestrovic

 

Erstes Gebot in einer Großfamilie: Man kann nicht machen, was man will. Als ich jünger war, stand ich in den Ferien immer früher auf, damit ich meine PC-Spiele spielen konnte. Ich stand um 7 Uhr auf und setzte mich ohne zu frühstücken als Erster an den PC. Jede Minute und jedes Spiel waren ein Gewinn für mich. Denn ich wusste, meine Spielzeit war begrenzt. So kostete ich die Morgenstunden aus. Ein Ohr war stets beim Spiel, das andere immer bei den Betten meiner Brüder. Hörte ich ein Knacksen? Sie konnten jeder Zeit alles ruinieren. Sobald sie ihre Augen öffneten, standen sie neben mir. „Furkan, wir sind jetzt dran!“ Sie nervten mich so lange, bis ich keine Wahl mehr hatte. „Mach FIFA für uns auf!“, hieß es. Ich konnte nie „Nein!“ sagen. Tat ich es doch, folgten jede Menge Drohungen: „Wenn du nicht aufhörst und jetzt weggehst, erzähle ich Mama, dass du in den Ferien eigentlich noch Hausübungen machen musst.“ Dann wurden die Bedrohungen immer schlimmer: „Hey Kleiner! Wenn du jetzt nicht aufstehst, erzähle ich in der Schule Lügen über dich. Du willst doch sicher nicht, dass deine Freunde von deinem Furzgestank oder Pinkelgeschichten wissen.“ Oder: „Willst du morgen früh eigentlich noch deine Haare auf dem Kopf sehen?“ „Soll ich Mama sagen, wie viele Stunden du schon in der Schule geschwänzt hast und am Reumannplatz beobachtet wurdest?“ Einer meiner Brüder kam beim Erpressen immer wieder auf neue Ideen. Jeden Morgen benutzte er ein anderes Argument. Hatte ich für den kommenden Tag Verteidigungsmaßnahmen vorbereitet, wurden sie bei seinen neuen Erpressungsversuchen zunichte gemacht. Es war hoffnungslos. Diese Kreativität nutzt er vielleicht jetzt als Chef bei seinen Mitarbeitern noch immer aus. (lacht)

 

Vorbild sein ist anstrengend!

Fatma (21), insgesamt sechs Geschwister, „Nummer 2“

Foto: Marko Mestrovic
Foto: Marko Mestrovic

Ich bin die Älteste, naja, die älteste Tochter. Das bedeutet: Ich habe Verantwortung. Ich muss und will ein gutes Vorbild für meine vier jüngeren Geschwister sein. Sie schauen zu mir herauf. Meine Mama sagt sehr oft „Lern brav! Dann kannst du auch auf die Uni, wenn du groß bist. So wie deine ältere Schwester.“ So ein Satz macht mich dann irgendwie auch stolz. Natürlich freut man sich darüber, wenn man das Vorbild für eine 7-Jährige ist. Aber nicht nur das Lernen wollen sich die Jüngeren von mir abschauen. Auch die Art, wie ich mit meinen Eltern und Geschwistern umgehe, merken sie sich genau. Um ja nichts „Falsches“ vorzuleben, versuche ich also immer höflich zu sein. Schimpfwörter gibt es nicht. Sowas sollten die Kleinen nicht hören. Ist zwar anstrengend, aber hey, ich will keinen Bumerang-Effekt.

Streitereien sind natürlich trotzdem nicht zu vermeiden. Bei uns ist es meist der Klassiker: Wer wäscht ab? Wenn jemand Bestimmter dazu aufgefordert wird, kommt immer das Gleiche: Heute ist nicht mein Tag. Derjenige hat es stets gestern schon gemacht. Manchmal opfert sich einer von uns, um das nicht mehr ertragen zu müssen. Meistens macht es aber dann unsere Mutter. Viel Geschirr ist es auf jeden Fall.

 

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