Schau mir in die Augen, Baby – nicht auf meine Arme!

02. Dezember 2020

Schräge Blicke ist sie gewohnt. Yasemin Uysal lernte schon früh, was es heißt, sich niemals unterkriegen zu lassen. Yasemin wurde ohne Unterarme geboren. Warum sie kein Mitleid braucht und die Body Positivity-Bubble keine Ahnung hat, erklärt die biber-Stipendiatin ganz persönlich. 

Von Yasemin Uysal, Foto: Zoe Opratko

Foto: Zoe Opratko
Foto: Zoe Opratko

Mama, warum hat das Mädchen da keine Arme?“ – „Weil es nicht brav war.“ Ich war gerade mal vier Jahre alt und mit meinen Eltern im Türkei-Urlaub als dieses Gespräch zwischen einer deutschen Touristin und ihrer Tochter stattgefunden hat. Damals war ich (zum Glück) viel zu klein, um die Bedeutung hinter dieser Aussage zu verstehen.

Ja, ich habe keine Arme, keine Unterarme besser gesagt. Aber NEIN, es liegt nicht daran, dass ich als Kind nicht brav war. Der Grund dafür heißt Dysmelie.

BEHINDERT? – ICH DOCH NICHT!

Unter Dysmelie wird eine angeborene Fehlbildung einer oder mehrerer Gliedmaßen verstanden. Anders ausgedrückt: Ich habe eine Behinderung. Komisch, das Wort „Behinderung“ zu verwenden, wenn ich über mich selbst spreche. „Person mit Beeinträchtigung“ oder „mit besonderen Bedürfnissen“ sind auch so Ausdrücke, die ich nur sehr ungern mit mir persönlich in Zusammenhang bringe. Denn „behindert“ fühle ich mich nicht, ich habe auch keine „besonderen“ Bedürfnisse, also keine, die sich sonderlich von den Bedürfnissen anderer unterscheiden. Mit Freunden treffen oder meiner Schwester Unsinn treiben, shoppen, schminken, schwimmen und einen Job, der mir Spaß macht, wie etwa diesen Text hier schreiben. Kurz gesagt: ein selbstbestimmtes, glückliches Leben führen!

Der wohl wichtigste Grund, warum ich mittlerweile so locker mit meiner Situation umgehen kann, sind meine Eltern. Ich weiß, dass es auch für sie nicht immer einfach war, eine Tochterzu haben, die etwas „anders“ ist. Meine Eltern waren es, die die Blicke und Sprüche anderer ertragen mussten, als ich noch zu klein war, sie selbst wahrzunehmen. Aber egal wie viele Blicke sie einstecken mussten, meine Eltern haben mich das niemals spüren lassen. Für sie war ich nie DAS behinderte Kind. Für sie war ich ein Kind, ihr Kind, das sich genauso entwickeln und entfalten sollte, wie die anderen Kinder. Und als ich mir mit sechs Jahren in den Kopf gesetzt hatte, ein Musikinstrument zu lernen, war es für meine Eltern das Normalste der Welt, mir diesen Wunsch zu erfüllen. Also lernte ich Panflöte, denn das ist eines der wenigen Instrumente, wofür man keine Finger benötigt.

KEIN PLATZ FÜR MITLEID

In der Schule wurde ich von Anfang an akzeptiert, wie ich bin. Ich hatte keine Probleme, Freundschaften zu schließen. „Warum hast du keine Arme?“ – „Weil ich so geboren wurde.“ – „Ok, wollen wir was spielen?“ So verliefen die meisten „Kennenlern-Dialoge“, aus denen sich dicke Freundschaften entwickelten. Diese Direktheit bei Kindern weiß ich sehr zu schätzen. Kinder sagen und fragen, was sie denken und nehmen den Umstand einfach hin. Erwachsene hingegen denken zu viel nach für meinen Geschmack. Viele Menschen denken, sie müssten mich mit „Samthandschuhen“ anfassen – als wäre ich irgendwie zerbrechlich. Wenn sie nicht wissen, ob sie mir die Hand geben sollen oder zusammenzucken, nachdem sie meinten, ich solle ihnen „die Daumen drücken“. Ich weiß, sie machen das aus einer Unsicherheit heraus und ich kann es ihnen auch nicht verübeln. Aber ich will und brauche kein Mitleid! 

In der Schule und auf der Uni gab es für mich auch kein Mitleid, keine Sonderbehandlung – so hart das auch klingen mag, es war der einzig richtige Weg. Denn nur so lernte ich mich durchzusetzen und das Beste aus mir herauszuholen. In der ersten Klasse galt meine Handschrift als die schönste der Klasse. „Aber wie kannst du schreiben?“ – diese Frage ist noch heute unter den Top- 3-Fragen, wenn mich jemand zum ersten Mal sieht. Meine Standardantwort: „Ganz normal.“ Ich kann nicht abstreiten, dass ich’s nicht genieße, mein Gegenüber für einen kurzen Moment im Dunkeln tappen zu lassen. Die Fragezeichen stehen den meisten förmlich ins Gesicht geschrieben. Normal? – Ja, antworte ich dann, nehme einen Stift in meine beiden Arme und beginne zu schreiben. Für mich ist das normal.

„ANDERS-SEIN“ KANN SCHON ZACH SEIN

Dass ich meine Situation heute für „normal“ empfinden kann, war allerdings nicht immer so. Es ist das Ergebnis eines langen Lernprozesses. Als ich ins Teenager-Alter kam, kam bei mir immer mehr das Bewusstsein auf „anders“ zu sein. Allmählich realisierte ich die Blicke anderer. Kommentare, die ich als Kind überhört hatte, waren jetzt für mich umso lauter und ziemlich verletzend. Ich entwickelte regelrecht eine Paranoia, in der ich mir in der Öffentlichkeit einbildete, alle Menschen würden mich und meine Arme anstarren. Meine Behinderung spielte plötzlich eine zentrale Rolle in meinem Leben.

Während meine Freundinnen ganz gut bei den Jungs ankamen, schaffte ich es immer nur auf den Rang der „guten Freundin“. Klar, wer möchte schon eine feste Freundin ohne Arme?

Diverse negative Erlebnisse führten dazu, dass ich mich als Jugendliche mehr und mehr für meinen Körper zu schämen begann. Ich machte ihn dafür verantwortlich, dass ich mich nicht schön und begehrenswert fühlte. Ständig hatte ich das Bedürfnis, meine Arme zu verstecken, aus Angst, ich würde dann wieder nur auf sie reduziert werden. Selbst im Hochsommer verließ ich das Haus nur mit einer Jacke bekleidet. In der Hoffnung, mein „Makel“ wäre dann nicht so offensichtlich.

Social-Media war in diesem Prozess auch nicht gerade förderlich. Überall sah ich Bilder von scheinbar „makellosen“ Menschen und ich wollte einfach nur so „perfekt“ sein wie sie. Als die sogenannte Body-Positivity-Bewegung die digitale Welt eroberte, geriet ich in einen Zwiespalt. Wie sollte ich mich und meinen Körper akzeptieren, geschweige denn lieben, wenn ich so oft in der Gesellschaft auf Abneigung stieß?

BODY-POSITIVITY – UND DIE FALSCHEN VORBILDER

„Du bist perfekt, wie du bist!“ - Mit Slogans wie diesem will die Body-Positivity-Bewegung Menschen dazu ermutigen, sich in ihrem Körper wohlzufühlen, auch wenn dieser nicht den von der Mehr- heitsgesellschaft und der Mode-Branche aufgezwungenen Schönheitsidealen entspricht. Was jedoch die wenigsten wissen, ist, dass dieses Movement ursprünglich von schwarzen Frauen ins Leben gerufen wurde und Frauen mit Deformationen, ‚Women Of Colour‘ und Transgender-Frauen ins Scheinwerfericht rücken sollte.

Was ist passiert? Body Positivity wird heute fast ausschließlich von westlichen (weißen) scheinbar makellosen Frauen repräsentiert, die nach einem etwas zu ausgiebigen Mittagessen ihren Bauch in die Kamera strecken und drunter einen Hashtag #loveurbody setzen. Wir leben mittlerweile in einer Bubble, in der mir als Frau mit körperlicher Behinderung eine andere Frau, die weder körperliche Defizite hat, noch jemals aufgrund ihres Äußerlichen schief angesehen wurde, sagt, ich solle meinen Körper lieben.

Wie kann ich mich aber schön finden, wenn mich Leute anstarren? Wie kann ich mich akzeptieren, wenn ich aufgrund meiner Behinderung einen Job nicht bekomme? – Ja, das kommt vor. Oft sogar! Mein nicht österreichisch klingender Name macht das Dilemma nicht gerade einfacher. Es gab schon Situationen, in denen ich nicht wusste, ob ich die Absage aufgrund meiner Behinderung, meines Namens oder etwa weil ich weiblich bin, bekam. Vielleicht spielt dabei alles zusammen.

Da hilft dir in dieser Body Positivity–Instagram-Bubble aber niemand. Warum? – Weil die, die diese Bewegung für sich vereinnahmt haben, keine Ahnung davon haben.

Probleme werden ausgeblendet oder so nach dem Motto: „Liebe dich selbst, dann werden dich alle lieben“ verharmlost. Aber die Realität ist anders! Jeder, der was anderes behauptet, lügt nicht nur uns sondern vor allem sich selbst was vor.

#SELFEMPOWERMENT LAUTET DAS ZAUBERWORT

Im Alltag gibt es oft Situationen oder Hürden, die Menschen wie mir vor Augen führen, dass wir „anders“ sind. Das soll aber nicht heißen, dass wir unseren Körper nicht trotzdem akzeptieren können. Wir können uns nur selbst nicht lieben, bloß weil jemand anderes auf Instagram uns das vorträllert. Wir müssen selbst bereit dafür sein, es von selbst wollen und zulassen. Und wir müssen akzeptieren, dass es Rückschläge gibt. Die dürfen wir aber nicht negativ werten. Denn sie machen uns nur noch stärker!

Es wird immer Menschen geben, die starren oder dumme Sprüche bringen. Aber wenn ich durch meine negativen Erlebnisse eines gelernt habe, dann, dass wir viel weniger Wert auf die Meinung von Außen legen sollten.

Und was die Liebe angeht: Heute bin ich um einige Erfahrungen reifer und weiß, dass das Problem nicht etwa fehlende Gliedmaßen sind. Es ist die fehlende Bereitschaft der anderen, das wahre Ich eines Menschen erkennen zu wollen. Dabei wissen die Wenigsten, was sie eigentlich genau daran stört. Ja, Menschen wie ich müssen vielleicht die eine oder andere Enttäuschung mehr hinnehmen. Aber es gibt ihn. – Den Menschen, der mir in die Augen schaut und nicht auf meine Arme. Der, der kein Defizit an mir sieht. Der, dem es egal ist, was andere über die Frau an seiner Seite denken. Hat man diesen Menschen getroffen, so realisiert man, dass all die Enttäuschungen zuvor nicht eine Träne, nicht einen Selbstzweifel wert waren. Leider checkt man das immer erst im Nachhinein.

Früher war es mir immer wichtiger, den Idealen anderer zu entsprechen. Dabei vergaß ich, dass ich schon längst von den wichtigsten Menschen akzeptiert und geliebt wurde - von meiner Familie und meinen Freunden.

Wenn man das erst Mal verstanden hat, dann ist man bereit, sich selbst zu lieben. Empowerment und Body Positivity kann nur durch uns selbst stattfinden! 

 

Zur Autorin: Yasemin Uysal ist 27 Jahre alt. Sie hat Orientalistik und Deutsch als Fremdsprache studiert. Yasemin hat in den letzten zwei Monaten die biber-Akademie absolviert und will nun mit den gesammelten Erfahrungen in der Medienbranche weitermachen.

 
 
Dieser Artikel ist Teil des biber-Empowerment-Specials "Du bestimmst. Punkt."  Junge Frauen aus den Communities berichten im Rahmen des Projektes darüber, wie sie für Selbstbestimmung kämpfen. Das Projekt wird durch den Österreichischen Integrationsfonds finanziert. Die Redaktionelle Verantwortung liegt allein bei biber. 
Hier findet ihr die anderen Artikel, die im Rahmen des Projektes entstanden sind:
 

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