Von Nachbarschaften und sozialen Gefängnissen

26. September 2014

Seit einem Jahr sind in Wien 13 Nachbarinnen beruflich unterwegs. Sie sprechen Frauen auf offener Straße und auf Spielplätze an. Anders als im gewohnten Alltag handelt es sich nicht um Frauentratscherei, sondern um ein Women-Empowerment Integrationsprojekt.

 

Roda kann nicht lesen und schreiben. Ihr Leben beschränkt sich auf vier Wände eines Zimmers. Sie lebt abgeschottet von der Gesellschaft und hat Angst. Angst sich zu verlaufen, weil sie die Schilder nicht verstehen kann oder jemanden nach dem Weg zu fragen, weil sie die Sprache nicht beherrscht. Angst vor der Zukunft. Aber all das war gestern. Heute ist Roda selbstständig, spricht mit anderen Frauen, liest und lernt Deutsch. Sie besucht die Elternabende ihrer vier Kinder und hat Mut. Jede Menge Mut! Sie passt sich einer neuen Realität an, entwickelt sich immer weiter.

 

Beruf: Nachbarin

 

Das alles hat sie Asha Abdi Osman zu verdanken. Asha ist eine Nachbarin, aber keine übliche. Sie ist neben zwölf anderen 

Frauen in Wien eine Nachbarin von Beruf. Im Rahmen des Projektes „Die Nachbarinnen“ betreut Asha isolierte Familien aus der somalischen Community und verhilft ihnen zu einem neuen Leben. Das Projekt wurde 2013 von Christine Scholten und Renate Schnee ins Leben gerufen. Die Zielgruppe des Integrationsprojekts sind vor allem Frauen und Familien aus der muslimischen Community, die in ihrer Muttersprache betreut werden. Deswegen beherrschen die Nachbarinnen Türkisch, Kurdisch, Somali, Arabisch und Tschetschenisch.

Asha und Roda lernten sich bei einem Treffen des somalischen Frauenvereins in Wien kennen. Das ist aber nicht der einzige Weg, auf den die Nachbarinnen auf andere Frauen zugehen. Mütter am Spielplatz, in der Schule oder beim Gebet anzusprechen, ist unter anderem Alltag der Nachbarinnen. Asha ist stolz auf Rodas Fortschritte. „Sie ist hartnäckig und so eine starke Frau geworden!“

Eine der Gründerinnen erklärt den Zugang des Projektes. „Es gibt Frauen, die seit vielen Jahren völlig isoliert in Wien wohnen, ohne ein Wort Deutsch zu können. Deswegen versuchen wir Bewegungsräume für diese Frauen zu schaffen“, erklärt Christine Scholten.  „Die gemeinsame Kultur und Sprache verhelfen zu einer vertrauensvollen Atmosphäre“, ist sich Asha ganz sicher.

 

Integrationsprofis

 

Es gibt sogar einen Lehrgang an der Alpen-Adria-Universität in Klagenfurt, den die zwölf Frauen 2013 abgeschlossen haben. Heute sind sie Teilzeit-Integrationsprofis. Nach der Ausbildung betreut jede Nachbarin vier bis fünf Familien gleichzeitig im Rahmen von drei bis fünf Monaten, je nach Bedarf. Die Gründerinnen wollen 250 Familien pro Jahr unterstützen. Mit 191 Familien in den letzten zwölf Monaten ist dieses Ziel realistisch. Die Betreuung ist ziemlich breit gefächert: Hausbesuche, Beratungen, Workshops, Bildungsfrühstücke gemeinsam mit den anderen Frauen, aber auch Arzt-, Kino- oder Elternabend-Besuche. Sie umfasst nicht nur Integrationsfragen, sondern auch Themen aus anderen Lebensbereichen: Wie ist ein Kind fürs Lernen zu begeistern? Wie lässt sich die Beziehung zu den Lehrern verbessern? In einem Buch werden die Ziele bei jedem Treffen eingetragen und die Nachbarinnen kontrollieren die Fortschritte. Heuer im Oktober startet auch in Linz auch ein Ausbildungskurs. Unter dem Schwerpunkt „eine Familie wieder auf die Beine stellen“, werden Kenntnisse in den Bereichen Erziehung, Gesundheit und Bildung vermittelt.

 

 

Zwei Welten – eine Tür

 

Asha hat Roda acht Monaten unterstützt, solange hat es gedauert, bis die kleine Familie eigenständig war. In diesen acht Monaten hat Roda einen Deutschkurs angefangen, neue Kontakte geknüpft, eine Wohnung gefunden und ist jetzt auf der Suche nach einem Job. Die Noten ihrer vier Kinder haben sich gebessert: Früher hatten sie Schwierigkeiten in der Schule, heute erhalten sie Einser und Zweier in Deutsch und treffen neugewonnene Freunde im Jugendzentrum. Der älteste Sohn von Roda, Abdulai, hat sogar einen konkreten Zukunftsplan. „Ich will eine Lehre zum Krankenpfleger machen, maturieren und anschließend ein Studium beginnen“, erklärt er in fast akzentfreiem Deutsch. Die Arbeit von Asha ist erledigt. „Roda hat viel erreicht und ist so eine starke Frau geworden“, sagt sie lächelnd, während sie die Tür zur Rodas Wohnung schließt. Noch vor einem Jahr war diese Tür ein soziales Gefängnis für Roda.

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