Christliches Abendland Version 2.0

21. August 2015

  Eigentlich hatte ich mir ja vorgenommen, mich aus der ewig dieselben Vorurteile wiederkauenden Flüchtlingsdebatte in den sozialen Netzwerken für eine Weile herauszunehmen, quasi Fasten für den Seelenfrieden. Doch dann stieß ich auf eine Meldung, die mich schier aus allen Wolken fallen ließ. Brandheißer Zündstoff. Als besorgte Bürgerin läuteten bei mir sofort die Alarmglocken angesichts dieses Skandals, der seinesgleichen noch eine Weile suchen wird müssen. Es geht nämlich die Mär, die Flüchtlinge in Traiskirchen hätten – wait for it – Internetzugang. INTERNETZUGANG!

Ob dies allerdings tatsächlich der Wahrheit entspricht, werde ich vermutlich nie erfahren. Ich kann aber damit ganz gut leben, weil es mir schlicht egal ist. Was mein Weltbild jedoch nachhaltig erschüttert hat, ist folgende Erkenntnis: Angesichts der Zustände in Traiskirchen gibt es ernsthaft Leute, die sich DARÜBER aufregen würden. Nein, Konjunktiv falsch gesetzt. Es gibt also Leute, die sich allein über die Möglichkeit, dass Flüchtlinge in Traiskirchen freien Internetzugang HÄTTEN, ernsthaft aufregen. Gerade so, als gäbe es deshalb plötzlich weniger Internet für alle anderen. Gerade so, als wäre angesichts der Situation in Traiskirchen, die wir mittlerweile zu Genüge aus den Medien kennen, und des niederschmetternden Berichts von Amnesty International über selbige das EIGENTLICHE Problem, dass die Flüchtlinge es am Ende doch zu gut haben könnten. Plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen und ich verstehe, welcher Gedanke hinter all diesen geschürten Ängsten und vermeintlich berechtigten Sorgen wirklich steht: Wer ins christliche Abendland einziehen will, muss Buße tun. Wer unsere Menschlichkeit erfahren möchte, muss in tiefer Demut und gottergebener Dankbarkeit sein Dasein fristen, von jetzt an bis in alle Ewigkeit. Wer es ganz ohne Moses über das Meer in das gelobte Land, wo Milch, Honig und wlan fließen, geschafft hat, soll sich gefälligst mit den nächsten 40 Jahren Wüste abfinden. Ich erkläre es jetzt nochmal für alle zum Mitschreiben: Flucht ist weder ein Verbrechen im rechtlichen, noch eine Sünde im moralisch-theologischen Sinne.

Über alle Maßen sündhaft ist es jedoch, sich selbst aufgrund des eigenen Geburtsortes als belohnenden oder strafenden Gott zu zelebrieren, der über Leben und Tod, über Leid und Erlösung entscheiden darf. Hochmut kommt schließlich nicht umsonst vor dem Fall. Das Recht auf Asyl ist ein Menschenrecht. Und Menschen in Österreich Asyl zu gewähren bedeutet dann auch, dies nach österreichischen Standards zu tun. Wir können kein politisch geschaffenes Mikrokrisengebiet innerhalb unserer Staatsgrenzen tolerieren, wie wir es schon viel zu lange tun, oder gar unterstützen, nur weil sich manche mit dem Gedanken besser fühlen, dass Flüchtlinge es am Ende ja doch nicht so gut haben, weil sie es nicht anders verdient hätten. Hier geht es nämlich nicht um Verdienst oder Belohnung, Schuld und Sühne. Aber falls es zur allgemeinen Beruhigung beiträgt: Es gab da schon mal einen, ca. 2000 Jahre v. I. (vor dem Internet), der für uns Buße tat und sogar am Kreuz gestorben ist. Einfach so, um uns alle zu erlösen. Nachdem das also schon mal erledigt ist, können wir alle eine Runde chillen und aufhören, unsere Menschlichkeit.an ganz und gar unmenschliche Bedingungen zu knüpfen. In Ewigkeit – Amen.

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