DU bist nicht der Westen!

06. Februar 2017

Manchmal will man einfach schreien. Das geht auch in gedruckter Form, wie die folgende Wutrede beweist.


Diese Meinung richtet sich nicht ausschließlich an die Politik. Wenn du zwischen der Slowakei und Slowenien nicht unterscheiden kannst, du der Meinung bist, alle Muslime seien gefährlich oder Migranten in dritter Generation sollen gefälligst dankbar sein, hier zu leben – dann ist dieser Kommentar auch an DICH gerichtet!


 

Ich stehe der religiösen Indoktrination und dem Einfluss von Glaubens-Institutionen kritisch gegenüber. Staat und Religion vertragen sich nicht. Punkt. Der Staat regelt das Zusammenleben, stellt Regeln auf und bestraft diejenigen, die sich nicht an diese halten. Religion befriedigt das private Bedürfnis von vielen Menschen nach den ungeklärten Antworten des Lebens: Warum muss ich sterben? Ist es ok zu lügen? Alles berechtigte Fragen, die uns auf spiritueller Ebene bereichern, in der Gesetzgebung aber so fehl am Platz sind wie eine Nonne im FKK-Bereich.

Doppelmoral

Trotzdem sehe ich mich in letzter Zeit gezwungen, für Menschen mit religiösen Ansichten (in diesem Fall mehrheitlich Muslime) einzustehen, sie gar vor der mutmaßlich religionskritischen Öffentlichkeit zu verteidigen. Mir geht die ewige Doppelbödigkeit der westlichen Gesellschaft so richtig auf den Geist. Manche sind bestimmt nicht darüber erfreut, dass ein nach Österreich geflüchteter (Achtung: Da steckt das Wort „FLUCHT“ drinnen!) Journalist die Frechheit besitzt, sein neues Heimatland zu kritisieren. Genau die Eigenschaft, die vielen Muslimen in Österreich nahegelegt wird - endlich selbstkritisch gegenüber dem eigenen Glauben und seiner Auslegung zu sein - hat für viele selbsternannte Abendland-Retter keinen Platz in ihrem Wertesystem. Kritik gegenüber unserer fortschrittlichen, unfehlbaren Welt sei nicht angebracht.

Wer hier lebt, habe sich zu integrieren, schreien sie von den selbstgebauten Türmen des Euro-Zentrismus auf die Menge herunter. Man müsse sich ja selbst verschleiern, wenn man in "diese" Länder reist, wo kommen wir denn da hin...?" Ihren Beitrag zur modernen Gesellschaft bleiben die Wutbürger und ewigen Pessimisten schuldig, den müssen sie auch nicht erbringen, das sollen ruhig die tun, die entweder vor kurzer (Flüchtlinge) oder längerer Zeit (Frauen mit Kopftuch) unsere Insel der Seligen betreten durften. Aber wehe, sie fordern die Rechte ein, die für uns seit 70 Jahren bestehen – Nein, das dürfen sie nicht, weil das respektlos und dreist gegenüber Österreich ist. Am besten „gusch“ sein, brav die Teller im Wirtshaus abwaschen und Steuern zahlen. So haben wir sie am liebsten, unsere ausländischen Mitbewohner.

Geiz ist geil!

Diese Argumentation sagt viel über unsere Gesellschaft aus. Sie beruft sich zwar auf die großartigen Errungenschaften der europäischen Zivilgesellschaft (Religionsfreiheiten, Aufklärung, Recht auf selbstbestimmtes Leben), hat diese aber nie verinnerlicht. Der Konsument, dessen Werte irgendwo zwischen "Geiz ist geil", Instagram und All-Inclusive-Hotels in Punta Cana pendeln, hat grundsätzlich kein Interesse am globalen Weltgeschehen und seinen Ursachen. Er trägt zwar Merino-Wollpullover aus Chile, Socken aus Bangladesch, fährt mit Saudi-Öl abends in den nächstgelegenen Cineplexx, fragt aber nicht, warum ausgerechnet er dieses Privileg genießt und warum ausgerechnet die Länder, die über die wertvollsten Ressourcen verfügen, bitterarm und korrupt sind. Das wäre ja dann zu viel Gehirnschmalz und die Welt soll bitte in einem Krone-Artikel erklärt werden. Er fürchtet den religiösen Einfluss des politisch-motivierten Islams (tue ich übrigens auch), stellt aber ganz nebenbei das Kreuz über die anderen religiösen Symbole, weil es ja historisch gewachsen sei. Wenn es kalt ist, denkt er keine Sekunde an Menschen, die frieren könnten. Aber wehe er erfährt von der Gutmenschen-Charity für Flüchtlinge, dann ist er plötzlich Patriot mit einem Herz für die einheimischen Obdachlosen. Er färbt seinen Facebook-Profil mit der französischen Landesflagge ein, attestiert aber der Türkei eigenes Verschulden, wenn sie von Terroranschlägen getroffen wird. Und jede Diskussion über Menschlichkeit und Toleranz wird als Multi-Kulti-Träumerei abgewürgt. Was kommt als nächstes? Aufhebung des Briefgeheimnisses, Einschränkung der Versammlungsfreiheit?

Du bist NICHT der Westen!

Die mit der "Flüchtlingskrise" einhergehenden Probleme dürfen nicht unter den Teppich gekehrt werden. Aber Menschen, die voller Wut auf die schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft eindreschen, denen muss man es ins Gesicht schreien. Du bist NICHT der aufgeklärte Westen, auf dessen Wertefundament du dich berufst. Sonst würdest du nicht bei der ersten Windböe umfallen und Flüchtlinge als das Problem unserer Zeit bezeichnen. Ein Mensch wird nach seinen Taten beurteilt. Vor allem in angespannten Zeiten, sind gute Taten umso höher anzurechnen. So sehe ich auch die Verantwortung der Politik. Rückgrat zeigen, Integrität und Moral* wahren – für Unterhaltung und Polemik haben wir den Boulevard.

*Politik stellte für Antonio Rosmini - italienischer Geistlicher und Philosoph im 19. Jahrhundert - „eine ethische Verantwortung ersten Ranges dar, die neben höchster intellektueller Qualität eine außergewöhnliche moralische Integrität bedeutet.“ Diese Lektüre möchte ich in bester Absicht allen empfehlen, denen der Blick auf das Wesentliche abhandengekommen ist. Liebe, Respekt und Empathie.

 

1. Christiane Liermann: „Rosminis politische Philosophie der zivilen Gesellschaft.“ Schöningh Verlag, 2004; S. 450

 

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