Ein Wochenende, das seit 30 Jahren andauert - Erinnerungen an den Kriegsanfang am 3.4.1992

01. April 2022

mama_zoran_amar_francuska.jpeg

Die Flüchtlingsfamilie auf dem "Chateau fort de Lourdes" (Mama, Bruder, Autor - v.l.n.r.)
Die Flüchtlingsfamilie auf dem "Chateau fort de Lourdes" (Mama, Bruder, Autor - v.l.n.r.)

„Oh mein Gott, es ist Krieg!“ Meine Zeichenlehrerin in der vierten Klasse schrie plötzlich auf und musste sich am Heizkörper festhalten. So massiv war die Explosion, die meine Heimatstadt Mostar am Freitag, 3 April 1992 erschütterte. Die Worte der erst kürzlich aus Split gekommenen und durch ihren dalmatinischen Akzent in meinen Erinnerungen gebliebenen Lehrerin, läuteten einen neuen Lebensabschnitt für mich und meine Familie ein. Nur wusste ich das damals noch nicht. Als wir vom Unterricht entlassen wurden, dachte ich nicht an Krieg. Nein, ich dachte an Kriegsspiele. Im Computerladen gegenüber der „Deseta Osnovna Škola“  (Schule Nr. 10 in Mostar) zerberstete - wie fast überall in der Stadt – das Glas der Schaufenster. Dahinter verbargen sich Klassiker wie „Golden Axe“ oder „Prince of Persia“. Ich versuchte das allgemeine Chaos auszunutzen und mir ein, zwei Spielchen zu stibitzen. Als ich gerade zur Diskette griff, hörte ich meine Mutter. „Amare!“, schrie sie mich an. „Steig ins Auto ein.“ Ich fragte meine noch immer unentspannt wirkende Mutter nach unserem Reiseziel. „Wir fahren ans Meer, übers Wochenende.“, ließ sie mich wissen. Ich spürte an ihr, dass irgendwas nicht stimmt.

Die folgenden fünf Monate waren die schönste Zeit meines Lebens. Wir wohnten südlich von Split, in einer kleinen Pension einen Steinwurf von der Adria entfernt. Nein, das ist nicht bloß eine Redensart. Ich sammelte Steine vom Strand und warf sie direkt vom Balkon ins blaue Meer. Neben meiner Mutter, Bruder und mir wohnte meine Tante mit ihrem Sohn (Er ist so etwas wie mein zweiter Bruder, der mich immer zu schlimmen Dingen überredete), eine befreundete Familie aus Mostar mit zwei coolen Jungs, die etwas älter als ich waren und damals für mich ultralässige T-Shirts von „Iron Maiden“ und „Slayer“ trugen. Wir lebten wie Götter. Jeden Tag Fisch und Muscheln essen, die Kinder zogen den ganzen Sommer über bloßfüßig durch das verschlafene Örtchen und kletterten auf Bäume, kaperten alte Fischkutter, um dann von den in Jahre gekommenen Besitzern verjagt zu werden. Schule gab es keine und an Krieg erinnerten uns nur die Bilder aus dem Fernsehen und die Erzählungen meines Vaters, der uns alle paar Wochen besuchte.

Es wird nichts sein, wie es mal war

Mit meinen knapp zwölf Jahren begriff ich noch recht wenig. Ich wusste nicht, was Krieg ist. Ich konnte ihn nicht in seiner Komplexität fassen. Erst als meine Eltern entschieden, dass wir nach Frankreich flüchten sollten, endete das Idyll meines Bruders und mir, das wir so sehr in den letzten fünf Monaten genossen hatten. Wir versammelten uns in Split. Von dort aus sollten uns Fähren in den darauffolgenden Tagen nach Ancona (Italien) bringen. Der Anblick von Menschen, die nur mit einem Plastiksackerl fliehen konnten, erschütterte mich. In Split schliefen wir in einer riesigen Turnhalle plötzlich auf Matten, aßen Gulaschsuppe statt Muscheln, bekamen Läuse und starrten durch die große Glaswand an deren anderem Ende die Wasserballer des örtlichen Vereins ihr Training absolvierten. Ich fühlte mich richtig elend. Wie es wohl meiner Mutter dabei ergangen ist? Oder meinem Vater, von dem wir danach ein halbes Jahr nichts hörten, weil in Mostar der Krieg eskalierte und in den nächsten drei Jahren mehr als 10.000 Menschen das Leben kostete? Jahre später erzählte man mir von einem Klassenkameraden, der am Fahrrad von einem Scharfschützen erschossen wurde. Ich kann mich an seinen Namen erinnern. Ja selbst an sein markantes Gesicht und das dazugehörige unverkennbare Lächeln sind noch genau in meiner Erinnerung. Als hätten wir noch gestern Schabernack im Schulhof getrieben.

30 Jahre später merke ich, dass die Flucht und ja, sogar der urlaubsanmutende Aufenthalt im südlichen Dalmatien, tiefe Wunden in meine Erinnerung eingebrannt hat. Als ich die Bilder der Autokolonne sehe, die sich wie eine ewig lange Blechschlange ihren Weg raus aus Kiew bannt, sehe ich uns vor 30 Jahren meine Heimatstadt verlassen. Wir ließen alles zurück. Unsere Wohnung, das Landhaus, die Freunde, die Erinnerungen, die Gerüche, meine Kindheit. Es wird nichts so sein, wie es einmal war. Ein Satz, der selten so treffend war wie jetzt. Und ein Wochenende, das nach 30 Jahren noch immer andauert.

In Gedenken an alle Opfer des Krieges in Ex-Jugoslawien, sowie alle Menschen, die von der Ukraine bis Yemen unter dem Krieg leiden.

Blogkategorie: 

Das könnte dich auch interessieren

Foto: Zoe Opratko
Zum Abschied gibt es kein Trompeten­...
Foto: Marko Mestrović
Ob Hijabi-Style, koschere Perücken oder...
Foto: Marko Mestrović
Nicht über die Communitys zu sprechen,...

Anmelden & Mitreden

5 + 11 =
Bitte löse die Rechnung