„Essstörungen sind oft nur die Spitze des Eisbergs.“

09. September 2021

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Mafalda Rakos
Ramon, 2018 aus der Serie: A Story to Tell © Mafalda Rakoš

Die Wiener Fotografin Mafalda Rakoš beschäftigt sich seit fast zehn Jahren mit dem Thema Essstörungen. In ihrer Fotoserie „A Story To Tell: Or Regarding Male Eating Disorders“, die jetzt im Westlicht ausgestellt ist, zeigt sie, dass auch Männer betroffen sein können.

Interview: Nada El-Azar

Deine letzte Soloausstellung lief aufgrund der Coronamaßnahmen nur online. Welche Gedanken hast du zum Beginn der Ausstellung „A Story To Tell“?

Es ist für mich ein besonderes Gefühl, neben der laufenden World Press Photo im Westlicht ausstellen zu können. Aber nicht nur, weil sie so bekannt und medienwirksam ist. Ich bin auf die Grafische gegangen, da ist die World Press Photo so ziemlich die erste Ausstellung, die man mit seiner Klasse besucht.

Mafalda Rakos
Thomas, 2018 aus der Serie: A Story to Tell © Mafalda Rakoš

Wann entstand das Projekt, Menschen mit Essstörungen zu fotografieren?

Das Projekt entstand 2019, aber seit 2013 setze ich mich als Fotografin, Künstlerin und Anthropologin mit dem Thema Essstörungen auseinander. Ich habe auch schon ein Buch über Frauen, die an Essstörungen leiden, veröffentlicht, „I want to disappear“. Es war nicht so gewollt, dass ich zuerst über die Frauen etwas mache und dann über die Männer – damals hatte ich einfach keine Männer gefunden.

Wo hast du schlussendlich Männer für das Fotoprojekt finden können?

Als ich für meinen Uniabschluss in Den Haag lebte, habe ich einen Journalisten kennengelernt, der sich für das Thema interessiert hat und über den ich ganz schnell Männer fand, die sich öffnen wollten. Essstörungen sind an sich schon ein großes Tabuthema, aber bei Männern ist die Dunkelziffer schon sehr groß. Es ist eine Gruppe, die weder WissenschaftlerInnen, noch PsychologInnen, gut kennen.

Mafalda Rakos
Daniel, 2019 aus der Serie: A Story to Tell © Mafalda Rakoš

Unter welchen Essstörungen litten die Protagonisten?

Die Teilnehmer bei meinem Projekt leiden oder litten an Magersucht, Bulimie, Binge-Eating, und nicht näher klassifizierbaren Essstörungen. Relativ viele meiner Protagonisten haben ihre Essstörung über weite Strecken überwinden können, was auch wichtig ist, weil sie darüber reflektieren können.

Als Anthropologin, Künstlerin und Fotografin beschäftigst du dich schon sehr lange mit dem Thema. Was können die Gründe für eine Essstörung sein?

Es sind gesellschaftliche Umstände in den allermeisten Fällen. Männer werden durch ihr Umfeld in eine Essstörung gedrängt. Essstörungen werden wie Suchterkrankungen gehandhabt – häufig sind sie nur die Spitze des Eisbergs. Darunter liegen persönliche Konflikte, familiäre Situationen und andere Probleme. In den Interviews, die ich geführt habe, stand häufig die Frage „Was ist ein echter Mann?“ im Raum. Von den elf Protagonisten sind neun Teil der LGBTQI+-Community. In ihrem Leben waren die Fragen nach der eigenen Identität viel präsenter. Nicht einem typischen Bild von Männlichkeit entsprechen zu können, prägte viele Teilnehmer nachhaltig. Depressionen, das Gefühl der Unzulänglichkeit und Stigmatisierung können sich schnell in einer Essstörung ausformen.

Mafalda Rakos
Markus, 2019 aus der Serie: A Story to Tell © Mafalda Rakoš

Man würde doch meinen, dass es bei Essstörungen um das Abnehmen geht?

Viele von den Protagonisten litten an wirklich gravierenden Verläufen von Magersucht, inklusive Spitalsaufenthalten oder auch Suizidversuchen. Manchmal ging es nicht darum, dünn zu sein. In Wirklichkeit sind die Gründe, warum jemand eine Essstörung entwickeln kann, sehr individuell und vielfältig. Das Abnehmen steht bei vielen Betroffenen nicht im Zentrum. Wobei auch extremes Sporttreiben und die Fitnesskultur am Anfang einer Krankheit stehen können.

Welcher Teilnehmer blieb dir nachhaltig in Erinnerung?

Besonders berührte mich die Geschichte von Leroy aus Hamburg, der als Frau geboren wurde. Er war gerade einmal 20 Jahre alt, war aber sehr kreativ und offen im Rahmen des Projekts. Bei so viel Fantasie und Niedlichkeit, gibt es gleichzeitig eine sehr dunkle Seite. Er spricht in einer Videoarbeit auch über die Stereotype, gegen die er kämpft.

Mafalda Rakos
Leroy, 2019 aus der Serie: A Story to Tell © Mafalda Rakoš

Wie lief das Projekt genau ab?

Das Fotoprojekt war keine reine Reportage, sondern ein Prozess aus Interviews, Videoaufnahmen und Fotosession. Die Teilnehmer mussten sich auch selber zeichnen und waren sehr eingebunden in die Entstehung der Fotos. Bei vielen sieht man auch gar nicht, dass sie an einer Essstörung gelitten haben – bei manchen hat man das auch nie gesehen, weil sie nicht untergewichtig waren. Das Innenleben meiner ProtagonistInnen war mir am wichtigsten darzustellen, deshalb sind in der Ausstellung die Zeichnungen auch so groß. Leroy, den ich schon erwähnte, ist da sehr aufgegangen.

 

Bis 24. Oktober im Westlicht zu sehen!

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