Was passiert mit den Kindern in Flüchtlingslagern?

10. März 2021

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Kara Tepe, Ärzte ohne Grenzen
Foto: Dora Vangi/Ärzte ohne Grenzen

Sechs Monate nach dem Brand in Moria erreichen uns weiterhin erschreckende Bilder aus griechischen Lagern. Auch bei Kindern beobachten Helfer*innen vor Ort alarmierende Entwicklungen.

 

Triggerwarnung: Der folgende Artikel thematisiert psychische Erkrankungen, Selbstverletzung und Suizid.

 

Kara Tepe: Ende Februar wollte sich eine hochschwangere Frau das Leben nehmen. Die 26-jährige Afghanin schickte zuvor ihre Kinder aus dem Familienzelt, danach zündete sie sich an. Andere Bewohner*innen zogen sie aus dem Feuer, jetzt muss sie sich wegen Brandstiftung vor Gericht verantworten. Das Ereignis erinnert an den Fall eines jungen Afghanen, der wegen Gefährdung angeklagt wurde, nachdem sein sechsjähriger Sohn bei der Überfahrt über die Ägäis ums Leben kam. NGOs wie Ärzte ohne Grenzen und Amnesty International sehen in der Reaktion der griechischen Behörden eine bewusste Abschreckungsmethode. So soll verhindert werden, dass weitere Schutzsuchende nach Griechenland kommen. Die Notwendigkeit solcher Maßnahmen erscheint angesichts der katastrophalen Bedingungen in den griechischen Lagern nicht nachvollziehbar.

 

Die Folgen der Ausweglosigkeit

Die Unmenschlichkeit im Umgang mit Geflüchteten nimmt kein Ende. Ärzte ohne Grenzen berichtet seit Jahren über die psychischen Auswirkungen der unwürdigen Lebensbedingungen schutzsuchender Menschen. „Viele von ihnen haben bereits traumatische Ereignisse in ihrem Herkunftsland oder während ihrer Flucht nach Griechenland erlebt“, erzählt Lindsay Solera-Deucha, Psychiaterin bei Ärzte ohne Grenzen. Die Menschen sind in den Lagern gefangen, Selbstmordgedanken und Selbstverletzungen nehmen stetig zu. Auch bei den dort lebenden Kindern werden erschreckende Entwicklungen beobachtet. Die Kinderpsychologin Katrin Glatz-Brubakk erzählt: „Albträume, Konzentrationsschwierigkeiten, extrem niedrige Frustrationstoleranz, Aggressivität und Panikattacken. Manche Kinder ziehen sich fast vollständig von der Welt zurück. Sie spielen nicht mehr, manche haben seit acht Monaten kaum ein Wort gesprochen. Andere sind so apathisch, dass sie nicht mehr selber essen und gefüttert werden müssen. Sie sind so antriebslos, dass sie nicht einmal mehr selber zur Toilette gehen.“. Letztes Jahr wurden alleine auf Lesbos 49 Kinder mit Selbstmordgedanken oder nach Selbstmordversuchen behandelt.

 

Die Zustände in den griechischen Lagern sind lange kein Geheimnis mehr. Forderungen, die Bewohner*innen zu evakuieren, werden ignoriert. Österreich bietet „Hilfe vor Ort“ an: Zelte für den Winter, Heizkörper bei fehlender Stromversorgung, eine Kinderbetreuungsstätte für einen Bruchteil der dort lebenden Kinder.

 

Hilfe vor Ort reicht nicht

Um Traumata bewältigen zu können, brauchen Menschen Sicherheit, Stabilität und Routine – so Monika Gattinger, klinische Psychologin und Psychotherapeutin. Nichts davon gibt es in Kara Tepe. Die Möglichkeiten, Menschen mit psychischen Leiden zu behandeln, sind dementsprechend begrenzt. Bewohnerinnen können psychotherapeutische und psychiatrische Behandlungen in Anspruch nehmen, doch der Bedarf ist groß und die Wartelisten sind lang. Auf Lesbos werden schwere Fälle in umliegende Krankenhäuser und Therapiepraxen gebracht, trotzdem bekommen nicht alle die Hilfe, die sie benötigen. Und selbst wenn, sind die Chancen auf nachhaltige Besserung gering. „Das größte Problem: Nachdem wir die Kinder und Erwachsenen betreut haben, müssen wir sie in einen Alltag entlassen, der von Not, Mangel, Gewalt und Hoffnungslosigkeit geprägt ist. Wir wissen, dass die unmenschliche Situation in den Lagern eine Verlängerung oder sogar Vertiefung ihrer Traumatisierungen hervorrufen wird.“, erklärt Florian Lems, Kommunikationsleiter bei Ärzte ohne Grenzen Österreich.

 

Sechs Monate nach dem Brand in Moria hat sich die Situation in Griechenland nicht verbessert. Die österreichische Bundesregierung weigert sich nach wie vor, Geflüchtete aus griechischen Lagern aufzunehmen. Die Stimmung innerhalb der österreichischen Bevölkerung ist gespalten: Nach einer Befragung des ORF (Jänner 2021) sprechen sich 47% der Österreicher*innen für die Aufnahme von Geflüchteten aus Griechenland aus, 49% sind dagegen, 4 % haben ihre Meinung dazu nicht geäußert.

 

Bald kommt der Frühling. Die Temperaturen steigen, der Winter ist fast geschafft. Und doch bleibt in Kara Tepe alles wie immer: die Angst, die Perspektivlosigkeit und das Elend.

 

Hier findest du Hilfe bei Suizidgedanken und Depressionen:
Telefonseelsorge Österreich: 142

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