"Redet mit, nicht über uns!"

04. Mai 2022

Die in der Bukowina (West-Ukraine) geborene Autorin Lidiia Akryshora ist glücklich, dass die österreichische Zivilbevölkerung ihren Landsleuten hilft. Was ihr sauer aufstößt: Die Putin-Versteher und plötzlichen Ost-Europa-Experten, die russische Kriegsverbrechen relativieren. Ein Kommentar: 



„Wie geht es dir nach Corona?“, fragte mich jüngst ein Bekannter, nachdem er erfahren hatte, dass ich mich mit Covid angesteckt habe. Ich schaute ihn mit fragendem Blick an. Ich war tatsächlich vor ein paar Tagen noch wegen Corona in Quarantäne gewesen, aber das war schnell in Vergessenheit geraten. Der Grund: Mein Heimatland Ukraine wird von russischen Soldaten zu Land, Luft und Wasser angegriffen. Mein Land ist ein einziges Schlachtfeld mit unzähligen zivilen Opfern, Leid, Hunger. Mein Kopf ist zwar in Wien, aber mein Herz ist ständig in der Ukraine. Corona ist also – auch wenn es eine weltweite Pandemie ist, die vielen Menschen das Leben gekostet hat – für mich jetzt keinen Gedanken wert. Wieso fragt der Bekannte mich nicht, wie es meiner Familie in der Ukraine gehe oder wie ich mich heute fühle und wie ich es schaffe, normal weiter zu leben und zu arbeiten?
 
Trotz all dieser russischen Aggressionen und Gräueltaten finden sich genug Menschen, die sich noch immer verpflichtet fühlen, die russische Perspektive aufzuzeigen oder gar Mitleid mit russischen Söhnen zu haben. Anstatt nach meiner Meinung zu fragen, wollen die Leute mir unbedingt ihre Sicht der Dinge zum Krieg gegen die Ukraine erklären. Sie beteuern "wie arm die Russen sind und wie schwierig es ist, in Russland unter solcher Diktatur auf die Straße zu gehen und gegen den Krieg zu demonstrieren.“  Diese Menschen merken gar nicht, wie sie mich unbewusst bevormunden und von oben herab behandeln. Sie schreiben zwar über Social Media „Frieden an Alle“ und „Nie wieder Krieg“, gleichzeitig legitimieren sie den Überfall Russlands auf die Ukraine und sympathisieren mit dem Kriegsaggressor. Es gibt Fakten und die muss man akzeptieren. Wie die Wahrheit, dass es ein einseitiger Krieg ist. Und zwar der brutale russische, durch nichts zu rechtfertigende Krieg gegen die ukrainische Souveränität.
 
Im Krieg kann man nicht neutral sein
Ich höre in letzter Zeit immer wieder das Schlagwort „Neutralität“. Man solle sich als Österreich ja nicht in Kriege einmischen und als „Brücken- bzw. Dialogbauer“ fungieren. Selbst in der für gewöhnlich eher progressiven Kunst-, Literatur-, Kulturszene versucht man zwanghaft ukrainische und russische KünstlerInnen zusammenzuführen. Ein Wiener Theater in der Innenstadt hatte eine fragwürdige Aktion ins Leben gerufen. Es sammelte Texte aus der ukrainischen und russischen Literatur und ließ es von einer russischstämmigen Journalistin vorlesen. Mich stört diese imperialistische Einstellung, nicht MIT den UkrainerInnen zu sprechen, sondern nur ÜBER sie. Wie wäre es, die UkrainerInnen selbst zu fragen?
 
Dass Kriegsverbrechen in der Zeit des Entstehens oft verharmlost oder nicht ernst genommen werden, lehrt uns das Beispiel von Raphael Lemkin. Im Jahr 1941 wurde der polnisch-jüdische Jurist, der in Lwiw studierte, aus seiner Heimat vertrieben. Er hatte nur einen Koffer mit sich. Darin befanden sich Dokumente und Zeitungsausschnitte, die die Verbrechen der Nazis belegten. In den USA entwickelte er 1943 ein Gesetz für die polnische Regierung im Exil, in dem er als erster den Begriff ludobójstwo, also Völkermord einführte. Ein Jahr später wurde der Begriff „Genozid“ daraus abgeleitet. Also vier Jahre nach dem Ausbruch des Kriegs! Die allerwenigsten Menschen nahmen damals das schreckliche Ausmaß der Katastrophe wahr. Ähnlich wie 2022, 79 Jahre später. Ich denke da an die Verwüstungen und Massaker in Mariupol, Kharkiw, Chernihiv, Bucha und Irpin. Alles Orte, in denen furchtbare Verbrechen gegen Zivilisten passiert sind. Man darf nicht erst das Ende des Kriegs abwarten, um schreckliche Dinge beim Namen zu nennen oder gar sich dagegen zu sträuben oder dagegen zu argumentieren. Die Toleranzphase sollte endlich vorbei sein. Seit acht Jahren befinden sich russische Truppen im Osten der Ukraine und auf der Krym. Nur weil die österreichische Gesellschaft da gerne wegsieht, macht es den Krieg nicht ungeschehen.
 
Also, liebe Leute. Hört euren ukrainischen FreundInnen zu. Versucht, sie nicht zu belehren und ihnen eure geopolitische Expertise unter die Nase zu reiben. Im Krieg kann man nicht neutral sein. Wenn man fragt, ob man Hilfe bräuchte, werden viele meiner Leute sich dafür schämen und „nein“ sagen, obwohl das Gegenteil der Fall ist. Man braucht in Kriegszeiten IMMER Hilfe. Wenn du heute geholfen hast, heißt es nicht, dass morgen keine Hilfe gebraucht wird. Fragt am besten: „Was kann ich für dich jetzt tun?“ 

lidiia akryshora
Autorin Lidiia Akryshora, 32, lebt und arbeitet in Wien

 
 

 

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