Renate und Sandra ohne Dach

26. September 2017

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SUPERTRAMPS-Guide Sandra
Foto: TSVETIANA PETALAREVA

Alles verlieren, kein Zuhause haben. Ein Gefühl, dass die Winnerinen Sandra und Renate gut kennen. Eine Stadttour vom Verein „Supertramps“ zeigt die Gassen und Parks, die von den obdachlosen Frauen bewohnt wurden.

Sandra hat heute ihren zweiten Ausflug und ist sehr aufgeregt. Sie ist rothaarig, trägt einen rosa Schal und hat lackierte Nägel. „Ich stehe auf Pink, das merkt man doch“, - sagt sie und lächelt wie ein kleines Mädchen. Dass die 48-Jährige lange Zeit obdachlos war, verraten vor allem ihre Falten. Zum ersten Mal ist Sandra mit 9 auf der Straße gelandet, weil sie von ihrem gewalttätigen Vater flüchtete. „Schläge waren an der Tagesordnung. Wenn die Suppe nicht heiß genug war oder nicht schnell genug gebracht wurde, dann pickte sie an der Wand und wir mussten das putzen“. Damals lebte sie zwei Wochen lang im Venediger-Au-Park, der heute zum Ausgangspunkt ihrer Führung geworden ist.

SUPERTRAMPS-Guide Sandra während der Führung
Foto: TSVETIANA PETALAREVA

„Versteckte Obdachlosigkeit“

Nach Angaben der Statistik Austria und Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungshilfe waren 16.033 Menschen in Jahr 2015 österreichweit obdach- oder wohnungslos registriert. Davon, laut Verband Wiener Wohnungslosenhilfe, sind mindestens 10.000 in Wien. Die Obdachlosigkeit ist ein überwiegend männliches Schicksal, nur ein Viertel der obdachlosen Personen sind Frauen. Bei ihnen spricht man von sogenannter „versteckter Obdachlosigkeit“, weil sie auch viel seltener die Angebote der Wohnungslosenhilfe in Anspruch nehmen. Der Grund dafür ist ein starkes Schamgefühl.

Auch Renate, eine Freundin von Sandra, bestätigt diese These. Sie ist ebenfalls als ein aktiver Guide bei SUPERTRAMPS tätig und hat schon ungefähr 30 Touren durchgeführt. „Ich habe eigentlich immer versteckt, dass ich obdachlos bin. Als Frau geniert man sich“, so Renate. 

SUPERTRAMPS-Guide Renata
Foto: TSVETIANA PETALAREVA

Leben wie eine Achterbahn

Beide Frauen mussten sich immer wieder mit der Wohnungslosigkeit auseinandersetzen, aber es gab auch Phasen, in denen sie ganz normal lebten. Sandra und Renate haben eine Lehre absolviert, gearbeitet, Kinder gekriegt. Nichtsdestotrotz trieben die Umstände die beiden wieder auf die Straße: „In meiner jetzigen Situation bin ich eigentlich nur deswegen, weil ich mich vor ein paar Jahren selbstständig gemacht habe... Dann bin ich krank geworden und konnte den Job nicht mehr ausüben“, erklärt Renate. Bei Sandra schaut der Wohnungslosigkeitsgrund ähnlich aus: „ersten Schlag ins Gesicht habe ich bekommen als ich meinen Job wegen der Krankheit verloren habe“.

Was eine Frau auf der Straße erwartet, ist im Vorhinein schwer abzuschätzen. Sandra erinnert sich: „Es gibt Männer, die sagen, du kannst bei mir schlafen und es passiert nichts. Und dann gibt es Männer, die glauben, dass sie deine Situation ausnutzen können. Entweder du machst das oder du gehst wieder zurück auf die Straße“, sagt sie. Die Renate fügt gleich hinzu: „Die größte Gefahr für eine Frau ist natürlich, vergewaltigt oder geschlagen zu werden“, und ergänzt, dass früher die weiblichen Obdachlosen meistens zusammengehalten haben, um sich gegenseitig zu beschützen.

"Prager Patent"

Die Stadtführungen von Obdachlosen sind prinzipiell keine österreichische Erfindung. Die Idee wurde im Jahr 2015 von Prag gebracht und von der Katharina Turnauer Privatstiftung in Wien umgesetzt. Jede einzelne Tour wird genau geplant und zusammengestellt. Es ist sogar möglich, dass die Guides Rhetorik- und Theater-Workshops besuchen. Egal, welchen Schwerpunkt diese oder eine andere Führung hat, eine Sache bleibt: „Im Zentrum der Tour steht die Lebensgeschichte von einem Menschen“, erklärt die Managerin von SUPERTRAMPS Teresa Bodner und betonnt: "Es bedarf großen Mut, über seine Lebensgeschichte von einer Gruppe von oft bis zu 15 Personen zu reden". 

Sandra bezeichnet ihre aktuelle Arbeit als ideale Beschäftigungstherapie. „Man fühlt sich danach gut, wenn man als Mensch gesehen wird und nicht als irgendjemand, der auf der Straße gelebt hat oder lebt“. Die Geschichte ihres Lebens Fremden zu erzählen bringt ihr große Erleichterung. „Meine erste Tour war so toll, dass ich den ganzen Abend nur darüber geredet habe“. Renate teilt die Begeisterung der Freundin und verrät uns, warum sie die Touren wirklich macht: „Wenn ich sehe, dass die Leute während meiner Tour lachen, dann bin ich höchst zufrieden“.

Nicht wegschauen

Am Ende der Führung verteilt Sandra kleine Kärtchen von der Frauenhelpline und erzählt, an welche Frauenhilfsorganisationen man sich in Wien wenden kann, wenn man in einer schwierigeren Situation steckt. „Mir ist wichtig, dass die Leute hinschauen und nicht wegschauen, wenn sie einmal eine verzweifelte Frau auf der Straße sehen“, sagt die ehemalige Obdachlose und atmet erleichtert auf.

 

Info: Der Internationale Tag der Obdachlosen findet am 10.Oktober statt. Daher bietet SUPERTRAMPS exklusiv vier individuelle Touren in vier verschiedenen Wiener Grätzln an. Mehr Details findest du unter: http://supertramps.at

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