Sitzenbleiben bei Jugos ist der totale Weltuntergang

16. Mai 2017

https://unsplash.com/@jjthompson

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Ein ignorierender Papa, eine weinend-schreiende Mama und ein völlig zerknirschtes Kind. Es herrscht die reinste „ludnica“ (übers.: Irrenhaus) unter uns Jugos, wenn es heißt: „Mama, Papa, ich hab' 'nen Fleck im Zeugnis!“

Von Suzana Milic

Die Familie ist uns Jugos heilig. Kava trinken und Baklava essen sind an Sonntagen ein großes Highlight. Und manchmal glaub‘ ich echt, mich in einer spanischen Telenovela zu befinden. Es wird aneinander vorbeigeredet, Kopfschmerzen sind vorprogrammiert. Sobald das Stichwort „Schule“ fällt, wird’s in der Runde aber sehr still. Das ist ganz schlecht und heißt in unseren Kreisen nichts Gutes.

Während der eine in höchsten Tönen von sich und seinen guten Noten plappert, verstummt der andere und gerät wie bei einer Referatspräsentation ins Stottern. So auch meine Schwester, sie verliert die letzten Nerven: „Ja und? Ihr wisst es eh schon alle! Schaut mich nicht so an. Ja, ich hab 'ne Fünf in Mathe und vielleicht kommt der nächste Fleck auch bald rein!“. Kurz danach verschanzt sie sich ins Zimmer, ich laufe hinterher.

Dass es nicht leicht ist, über ein mögliches Sitzenbleiben mit Papa und Mama zu sprechen, weiß ich nur zu gut. Denn vor genau zehn Jahren wurde auch ich auf die Probe gestellt. Ich blieb sitzen. Damals war es noch ein riesiges Tabuthema, denn was soll die ganze Sippschaft dazu sagen?

„Was sind das bitte für Cobans, Suzi?“

Ich hatte wirklich gehofft, dass um dieses Einen-oder-sogar-zwei-Fünfer-im-Zeugnis-Haben mit der Zeit kein großes Tamtam mehr gemacht wird. Dem war leider nicht so. Natürlich muss sich diese „absolut schlimme“ Nachricht sogar bis zur Cousine dritten Grades väterlicherseits, die irgendwo in der bosnischen Pampa in einem 100-Seelen-Dorf lebt, verbreiten.

Je höher die Stimmlagen im Nebenzimmer wurden, desto mehr verbreitete sich Unverständnis im Raum aus. „Warum habt ihr dann so viele Nachhilfestunden bezahlt? Sie hätt' gleich 'ne Lehre machen sollen! Das ist euer hartverdientes blutiges Geld, das ihr für nichts rauswerft!“, Sätze wie diese werden von der Sippschaft mit dezenter Brutalität an die Köpfe unserer Eltern geworfen. Als große erwachsene Schwester fühle ich mich verantwortlich einzugreifen. Ich schaff's aber nicht.

Das einzige in dem Moment für mich Machbare war, mich dem ganzen Schmerz und der Last hinzugeben, die aus meiner Schwester herausströmten und sich in einer Tränenflut über meine Schulter ergossen. „Was sind das bitte für Cobans, Suzi? Mama und Papa sind doch nicht schuld, genauso wenig wie ich. Das Gym ist einfach viel zu schwer. Sie tun, als ob das alles ein Weltuntergang ist. So wie bei dir damals.“, gibt sie heulend von sich. Ich gebe ihr recht.

Zeugnisse werden gefälscht

Als ob es gestern gewesen wäre: „Ich steh‘ vorm Burnout, ich muss das machen Suzi!“, vertraute sich mir eine damalige Schulfreundin an. Die Panik übermannte sie. Viele meiner Freundinnen kamen nicht mit dem Sitzenbleiben klar, zu groß war der familiäre Druck. Sie fälschten das Zeugnis. Andere hingegen streikten, aßen tagelang nichts und gingen ihren Eltern aus dem Weg. Depressionen machten sich breit. Oft kamen sie nicht mehr zur Schule, sie hatten es einfach satt.

Von demselben Phänomen berichtet mir auch meine kleine Schwester. Vor allem durch das Hochpushen der Zentralmatura, dem damit verbundenen übermäßigen Leistungsdruck, sieht sie sich im Dauerprüfungs-Modus gefangen. Spontane Verabredungen mit meiner Sis? Nope! Ein „Ich schalt‘ jetzt mal ab!“ kam mir seit Monaten nicht mehr zu Ohren.

Natürlich bricht es einem das Herz, wenn der eigene Nachwuchs nicht mehr mitkommt und kurz davor steht, die Klasse wiederholen zu müssen. Doch wie heißt es so schön: „Scheitern und Stolpern gehören im Leben dazu“. Mit Fehlern und Misserfolgen haben wir bereits früh zu kämpfen, umso wichtiger ist es, dass die Unterstützung im Elternhaus nicht abnimmt. Insbesondere sehr sensible Kinder, die große Angst vor der Schule und dem chronischen Prüfungsstress haben, müssen gestärkt und aufgebaut werden.

Geschadet hat es mir nicht

Enttäuschung machte sich damals breit, nachdem meine Eltern erfuhren, dass ihre „faule“ Tochter das Jahr wiederholen wird: „Weißt du, was wir uns von den anderen anhören dürfen? Ich will nicht als Rabenmama dargestellt werden. So bin ich nicht! Wir haben so viel Zeit und Kraft in dich und dein Können gesteckt, so viele Nachhilfestunden hinter dir und jetzt das? Wieso hast du denn nichts gesagt Kind?“, schrie Mama und fiel Haare raufend zu Boden. Druck lastete auf uns allen. Ein mich ignorierender Papa saß auf dem Sofa und brachte es nicht übers Herz, einen Blick in mein Zeugnis zu werfen.

Im Laufe jenes Sommers dachte ich, das Vertrauen ganz zu meinen Eltern verloren zu haben. So war es dann Gott sei Dank nicht. Sie erkannten, spät aber doch, dass Hockenbleiben nicht automatisch etwas Schlechtes sein muss. Als das neue Schuljahr anbrach, waren sie für mich da, bauten mich auf und gemeinsam schafften wir Ziele. Ich wusste die Zeit gut zu nützen, widmete mich meiner jugendlichen Unreife und holte schnell Wissensrückstände auf. Geschadet hat es mir nicht.

Falls dann wirklich für meine Schwester feststehen sollte, dass sie in den Sommerferien für eine Nachprüfung zu lernen hat, werde ich ihr zur Seite stehen. Denn mit ganz viel Sister-Power schaffen wir das.

 

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