Wie du kannst nicht lesen? Stell dich nicht blöd!

17. September 2015

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Foto: Public Domain, Allejandro Escamilla

Die aktuelle Flüchtlingssituation stellt uns künftig vor eine weitere Herausforderung: Wie bringt man Menschen Deutsch bei, die nicht Lesen und Schreiben können?

Am 8. September war Weltalphabetisierungstag. Doch was bedeutet Alphabetisierung in dieser ungewohnten Situation? Der Begriff des Analphabetismus wird mittlerweile vermeiden, denn es ist ziemlich selten, dass jemand komplett analphabetisch ist, denn mit irgendeiner Form von Buchstaben kommen die meisten Menschen im Laufe ihres Lebens in Berührung. Es kann aber sein, dass vor allem Menschen aus verarmten Regionen nie die Schule besucht haben und schlicht und einfach nicht lesen und schreiben können, weil sie es nie gelernt haben. Oder aber auch, dass sie in einer anderen Schrift alphabetisch sind, aber mit lateinischen Buchstaben nichts anfangen können.

Laut UNESCO sind weltweit 780 Millionen Menschen nicht alphabetisiert. Auch in Österreich sind 10-20% der Erwachsenen davon betroffen und es bleiben ihnen aufgrund dessen privat und beruflich viele Türen verschlossen. Die Dunkelziffer ist sicherlich noch höher. Doch wie ist das möglich? Und was bedeutet es wirklich für den Alltag, nicht lesen zu können?

Stell dich nicht blöd!

Der 36-jährige Martin ist einer dieser Menschen und erzählt, wie er im Informationszeitalter seinen Alltag ohne Lesekenntnisse meistert. Martin kommt aus prekären Familienverhältnissen, als Pflegekind einer Frau, die ihn mehr als finanzielle Quelle als als Sohn wahrgenommen hat. Und da es für behinderte Kinder mehr Zuschüsse gibt, erzählt Martin, dass sie ihn und seine Geschwister bewusst klein gehalten und abhängig gemacht hat, obwohl sie die Motivation gehabt hätten, zu lernen. Er wurde abgeschirmt, nie gefördert und von Anfang an war der Weg für ihn die Sonderschule. Er ging gerne zur Schule, weil er die Freiheit genoss, nicht zuhause sein zu müssen. Doch am Ende seiner Schullaufbahn hatte er keine aussagekräftigen Zeugnisse.

Mit 21 hält Martin es nicht mehr aus, haut von zuhause ab und bekommt übers Hören-Sagen etwas von Basisbildungskursen und dem Nachholen eines Pflichtschulabschlusses an der VHS mit. Doch Lesen und Schreiben lernen ist ein aufwändiger Prozess und über die Jahre hat Martin sich viele Strategien zurechtgelegt, um den Alltag zu bewältigen. „Man schlingelt sich halt durch“, sagt er. Doch irgendwann gehen einem die Ausreden aus, deshalb hat er nicht versteckt, dass er Lese- und Schreibschwierigkeiten hat. Er musste offen sagen: „Ich kann nicht lesen und schreiben.“ „Viele Leute haben mir gesagt, ich soll mich nicht blöd stellen“, erzählt er weiter von seinen Mobbing-Erlebnissen, denn manche sahen seinen Zustand nicht als Schwäche, sondern als Dummheit oder Faulheit an. Ich möchte wissen mit welchen konkreten Schwierigkeiten er im Alltag konfrontiert ist und wie er sie meistert.

Beim Fernsehen: Er sieht kaum Nachrichten, weil er die Schlagzeilen nicht lesen kann, aber vor allem, weil ihm das Hintergrundwissen fehlt, um Zusammenhänge herzustellen. Werbung ist viel angenehmer.

Beim Einkaufen: Er verlässt sich auf Bilder oder was er eben sehen beziehungsweise angreifen kann. Mehr Infos hat er zu seinen Lebensmitteln nicht.

Im Restaurant: Er kann, wenn er alleine unterwegs ist, nie etwas Neues ausprobieren. Buffets sind die bessere Lösung. Trinkgeld geben fällt ihm auch schwer, da er nicht gut rechnen kann und er lange braucht, ein Gespür für angemessenes Trinkgeld zu entwickeln.

Verkehr: Er merkt sich wie Stationen aussehen beziehungsweise merkt er sich die Schriftzüge gewisser Straßen- und Ortsnamen, die er oft braucht, als Bilder.

Haushalt: Er kauft sich nur einfache Geräte, die er intuitiv bedienen kann, denn Gebrauchsanweisungen sind ein Ding der Unmöglichkeit.

Smartphone: Um eine SMS zu schreiben, braucht er mindestens eine Stunde. Doch er nutzt einige technologische Errungenschaften für Blinde, die ihm sehr helfen, unter anderem Vorlese-Apps.

Er ist generell auf die Hilfe anderer angewiesen. Früher hatte er einen Sachwalter, der ihn aber von sich abhängig gemacht hat. Martin hat aber die große Motivation Dinge so gut er kann selbst zu erledigen. Nun hat er ein Netzwerk aus Menschen, denen er vertraut, zum Beispiel in der Bank oder in der Versicherung. Dennoch schlägt Martins Leseschwäche auf seine Psyche und stellt eine Belastung für seine Beziehungen dar. Doch er lässt sich nicht unterkriegen. Martin war für das AMS unvermittelbar, also stieg er einfach aufs Rad und fuhr von Firma zu Firma, bis er seinen jetzigen Job als Friedhofs-Hilfsgärtner ergatterte.

Martin versucht anderen Menschen wie sich zu helfen und möchte auch gerne ein Spendenkonto einrichten. Aufgrund seines Jobs kann er nicht allzu viele VHS-Lesekurse besuchen, doch sein Ziel ist es in Zukunft die Zeitung sowie seinen Kontoauszug lesen und nachvollziehen zu können. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg, aber Martin lässt nicht locker.

Wie lernt man lesen, wenn man kein Deutsch kann?

Es bringt nichts unalphabetisierten Erwachsenen Lehrbücher oder gar Kinderbücher vorzulegen. Das kann nur frustrieren. An den VHS werden daher die bereits vorhandenen Strategien der TeilnehmerInnen genutzt, zum Beispiel wie sie Bilder, Farben und Anordnungen deuten. Zudem bringen sie ihre eigenen Alltagstexte mit, die sie gerne verstehen würden, wie zum Beispiel einen Bankbrief. Die Motivation zum Lernen ist größer, wenn die Texte eine Bedeutung haben und die TeilnehmerInnen das Gefühl haben, dass sich ihr Leben dadurch verändert.

Die Wiener Volkshochschulen bieten Basisbildungskurse mit Deutsch als Erst- und Zweitsprache an, die ÖsterreicherInnen sowie anerkannten Flüchtlingen die Möglichkeit geben Deutsch und Lesen zu lernen. Derzeit nehmen vor allem junge männliche Flüchtlinge diese Kurse in Anspruch, weil mehr von dieser Gruppe da sind, aber auch weil bei ihnen die Erwerbstätigkeit im Vordergrund steht. Doch auch für Frauen gibt es die „Mama lernt Deutsch“-Kurse, die an verschiedenen Schulen angeboten werden. Während die Kinder den Schulunterricht besuchen, lernen ihre Mütter in einem anderen Raum Deutsch. Alle Deutschkurse wurden seit der gestiegenen Anzahl an Flüchtlingen aufgestockt.

An der VHS Ottakring gibt es außerdem sogenannte Lernpartnerschaften, bei denen ehrenamtliche BildungspartnerInnen die TeilnehmerInnen mindestens einmal die Woche in ihrer Freizeit und neben dem Unterricht unterstützen. Hier kann jede/r mitmachen!

Weitere Infos gibt es bei den Wiener Volkshochschulen.

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