„Wir klebten eine Tafel aus Brot zusammen und kritzelten die Telefonnummern unserer Familien darauf!“

29. September 2020

Hunderttausende Menschen demonstrieren seit Wochen gegen das Wahlergebnis der Präsidentschaftswahlen in Belarus. Zhenia Apanasevich ist einer von vielen, die im Rahmen der Demokratiebewegung der grausamen Polizeigewalt ausgesetzt waren. Ein Bericht aus der Haft.

„Was dort passiert, ist einfach furchtbar. Es sind keine Menschen, es sind Tiere. Sie schlagen uns mit Schlagstöcken und erfahren dadurch Befriedigung, dabei drohen sie auch, uns umzubringen. Es ist reiner Faschismus, es ist ein Genozid an unseren Bürgern!“

Mit diesen Worten schildert der Belarusse Zhenia Apanasevich seine Erfahrungen mit der Polizeigewalt in Minsk. In dem Video, das er am 14.08.2020 auf Facebook veröffentlichte, sieht man ihn kurz nach seiner Entlassung im Auto eines freiwilligen Helfers.

„Man werde mir noch zeigen, was es heißt, sein Land zu lieben“, erzählt Apanasevich in der Aufnahme von den Drohungen der Sonderpolizei Omon. Unter Tränen bedankt sich der 35-jährige Minsker Reiseführer bei allen, die ihn und seine Familie in der schwierigen Zeit unterstützt haben. Anschließend appelliert er an die Zuschauer*innen, sein Video auf allen Social-Media-Plattformen zu verbreiten (bis dato wurde es 2.4K mal geteilt). Es sei ihm egal, welche Konsequenzen er davontragen würde. Denn in einem Land, in dem solche Ungerechtigkeiten herrschen, möchte er nicht leben. Das Video beendet er mit „Zhive Belarus“ (es lebe Belarus), dem Slogan der Protestierenden.

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Seine Erzählungen sind kein Einzelfall. Mittlerweile kursieren im Internet zahlreiche Aufnahmen dieser Art, die die grausame Polizeigewalt aufdecken. Bei der Präsidentschaftswahl am 9. August hatte die Wahlkommission dem amtierenden belarussischen Präsidenten Aljaksandr Lukaschenko mit 80,1 Prozent der Wahlstimmen den klaren Sieg gegen die Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja (knapp zehn Prozent) zugesprochen. Die Opposition geht stark von einem Wahlbetrug aus, auch die EU erkennt das Wahlergebnis nicht an. Kurz darauf floh Tichanowskaja ins EU-Land Litauen, wo sie sich bis heute aufhält. Seit nun einem Monat gehen Belaruss*innen trotz eines strikten Demonstrationsverbots auf die Straße. Obwohl die Demonstrationen friedlich verlaufen, setzte die Sonderpolizei auch Tränengas, Gummigeschosse und sogar scharfe Munition gegen die Menschen ein.

In unserem Interview erfahre ich, dass Apanasevich einer von jenen war, die nicht an den Protesten teilgenommen hatten und lediglich zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Am 10.08. lief er gegen Mitternacht – um die zwei Kilometer vom Epizentrum der Geschehnisse – die menschenleere Janka-Kupala-Straße entlang, als ihn die Omon plötzlich anhielt.

„Einer von ihnen sagte: Junger Mann, ist bei Ihnen alles in Ordnung?“ erzählt mir Apanasevich in einer WhatsApp-Sprachnachricht von dem Vorfall. Ich kenne ihn über gemeinsame Freunde.

„Ich sagte: Ja, alles in Ordnung.‘ Daraufhin durchsuchten sie meinen Rucksack, blätterten die Bücher durch, die darin waren. Ich trug ein T-Shirt, auf dem das ehemalige belarussische Wappen Pahonya (neben der rot-weiß-rot-Flagge gilt es heute als Symbol für die Opposition) abgebildet war. Als sie dieses sahen, sagten sie ‚Das ist unser Mann‘ und fingen an, mich zu beschimpfen und zu treten. Ohne Erklärung steckten sie mich in einen Gefangenentransporter, wo ich zwei Stunden lang mit den Händen hinter dem Rücken auf dem Boden liegen musste. Ich wurde angeschrien und man schlug mich mehrmals in die Harnblase. Ich wurde zur Polizeiwache gebracht, wo mir ein Protokoll vor die Nase gelegt wurde, das ich ungelesen und unter Schlägen unterschreiben musste. Später wurde ich in die Haftanstalt Zhodino bei Minsk gebracht.“

BIBER: Was ist dort passiert?

ZHENIA APANASEVICH: In der Zelle, die für maximal acht Personen ausgelegt war, wurden insgesamt 24 Personen gefangen gehalten. Nur fünf oder sechs von ihnen hatten tatsächlich an den Protesten teilgenommen, der Rest war, wie ich, wahllos auf den Straßen aufgegriffen worden. Höchstwahrscheinlich wollten die Omon uns Angst einjagen. In der Zelle war es sehr heiß und stickig, überall roch es nach Urin. Das Essen war überraschend akzeptabel. Wir hatten keinerlei Zugang zu Informationen, wir wussten nicht, dass so viele Menschen in den kommenden Tagen auf die Straßen gehen würden. Wir dachten, die Unruhen wären längst vorbei. Das Ausmaß der Protestbewegung hatte ich nicht erwartet. Als ich schließlich davon hörte, war ich zu Tränen gerührt.

BIBER: Konntest du deine Familie kontaktieren?

ZHENIA APANASEVICH: Das Schwierigste an der ganzen Sache war, dass niemand wusste, wo ich war. Nachdem ich nachts plötzlich aufgehört hatte, auf ihre Nachrichten zu antworten, hatte meine Frau vermutet, dass mir etwas passiert war. Vor allem machte ich mir aber Sorgen um meinen Vater. Er hat Krebs und ein schwaches Herz, und ich wollte nicht, dass es ihm noch schlechter geht. Doch egal wie oft ich die Aufseher anflehte, meine Eltern anrufen zu dürfen, sie gingen nicht darauf ein. Um unsere Familien zu informieren, klebten die Männer in meiner Zelle eine kleine Tafel aus Brot zusammen und kritzelten darauf mit einem Streichholz die Telefonnummern unserer Familien. Der erste, der entlassen wurde, nahm die Tafel aus dem Gefängnis mit und sollte ihnen mitteilen, dass wir am Leben waren.

Bedauerlicherweise hatte die Botschaft Zhenias Zuhause nicht erreicht. Am Tag seiner Verhaftung hatte seine Frau, Valeriya (34), die ganze Nacht versucht, ihn zu erreichen. „Ich wusste, dass [die Omon] ihn mitgenommen haben, doch ich glaubte weiterhin daran, ihn zu finden. Die Hoffnung stirbt zuletzt“, erzählt sie. „Ich hörte nicht auf, seine Nummer zu wählen: um 23 Uhr, um 2 Uhr nachts, am nächsten Morgen um 5, dann noch mal um 7 und um 11. Vergeblich. Verwandte riefen Polizeistationen, Krankenhäuser, sogar Leichenschauhäuser an – nichts. Die Ungewissheit macht einem zu schaffen.“ Eine offizielle Bestätigung über den Aufenthaltsort ihres Mannes gab es nicht, genauere Informationen erhielt Valeriya über viele Ecken und erst am Tag seiner Entlassung.

„Trotz allem hatten wir Glück“, sagt Valeriya. „Der Freund eines Studienfreundes wurde ins Minsker Okrestina-Gefängnis gebracht, in dem die Gefangenen den schlimmsten Folterungen ausgesetzt sind. Sie werden dort misshandelt und vergewaltigt. Wir hatten Glück im Unglück.“

BIBER: Zhenia, mit welcher Begründung wurdest du freigelassen?

ZHENIA APANASEVICH: Nach drei Tagen hieß es, ich darf raus. Eine offizielle Anschuldigung gab es nicht. Auch bis heute (29.09) habe ich keine offizielle Anklage erhalten und warte darauf zu erfahren, ob ich verurteilt werde.

BIBER: Was erhoffst du dir aus der jetzigen Demokratiebewegung?

Ich möchte in einem Belarus leben, das frei und demokratisch ist. Das seinen Bürgern erlaubt, Verantwortung zu tragen und selbst zu entscheiden. Ohne Angst vor Konsequenzen zu haben. Ich wünsche mir, in einem Land zu leben, das mit anderen Staaten gut kooperiert, auch mit Russland, ohne dabei seine Unabhängigkeit zu verlieren.

Nach einem Treffen in Sotschi am 14.September 2020 hat Russlands Präsident Wladimir Putin dem belarussischen Machtinhaber einen Kredit von 1,5 Milliarden US-Dollar versprochen. Laut Kremlchef soll das Geld das Nachbarland in dieser „schwierigen Zeit“ unterstützen.

Das ist nicht das erste Mal, dass der belarussischen Regierung ein Wahlbetrug und Missachtung der demokratischen Rechte des Volkes vorgeworfen wird. Doch noch nie zuvor hat es derartige Massenproteste mit hunderttausenden Beteiligten gegeben. Laut Zhenia spielen dabei viele Faktoren eine Rolle, vor allem aber auch Covid-19:

„Während andere Staaten die Situation ernst genommen haben und deren Regierung sich bemühte, alle Bürger zu schützen, hat unser Präsident sein Volk gedemütigt und es für dumm verkauft“, sagt Apanasevich. „Seine Autorität hat stark darunter gelitten. Außerdem ist die Generation, die früher primär auf die zensierten belarussischen TV-Nachrichten angewiesen war und nicht auf das Internet als Informationsquelle zurückgreifen konnte, mittlerweile viel kleiner. Die jüngsten Geschehnisse können nicht mehr rückgängig gemacht werden: so oder anders, Lukaschenkos Zeit ist vorüber.“

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