Wir leben nicht hinter dem Mond

19. August 2016

von Zakarya Ibrahem und Andrea Grman

Syrer in Österreich

Manchmal frage ich mich wirklich, was die Österreicher von uns Syrern denken. Es gibt so viele Vorurteile, deren Ursprung ich nicht kenne oder nicht nachvollziehen kann. Ich bin vor Kurzem zufällig auf die Seite refugee-guide.at des Innenministeriums gestoßen, die Flüchtlingen die österreichischen Werte und Regeln näherbringen soll. Was ich dort sah, ärgerte mich sehr. Natürlich ist es wichtig, die Spielregeln aufzuzeigen, damit sich alle daran halten können. Doch so, wie sie auf dieser Seite dargestellt sind, wirft das meiner Meinung ein sehr schlechtes Bild auf die Flüchtlinge hier. Es wirkt so, als hätten wir unser Leben lang in der Wüste gelebt und noch nie anderen menschlichen Kontakt gehabt. Auch in Syrien gibt es ältere Menschen, denen man über die Straße helfen soll, wenn sie Schwierigkeiten haben. Auch in Syrien war Gewalt verboten und man sollte seine Mitmenschen respektieren.

Freiwillig helfen

Wir Syrer sind ein sehr gemeinschaftliches Volk. Bei uns ist es selbstverständlich, dass man sich gegenseitig hilft. Ich würde nie auf die Idee kommen, Geld zu verlangen, wenn ich jemandem freiwillig helfe. Letzte Woche habe ich eine ältere Dame auf der Mariahilfer Straße gesehen, die mit ihrem Rollator unterwegs war. Sie trug eine schwere Einkaufstasche und schien sich damit zu plagen. Mein menschlicher Instinkt setzte ein und ich wollte ihr die Tasche abnehmen und helfen. Doch ihre Reaktion schockierte mich, als ich ihr meine Hilfe anbot. Sie sagte zu mir: „Bitte gehen Sie weg. Ich habe kein Geld.“ Ist es in Österreich verboten, Menschen zu helfen, ohne etwas dafür zu verlangen? Eine andere Szene machte mich noch stutziger. Ich war vor einiger Zeit bei einer guten Freundin von mir, die gerade ihre Wohnung renovierte. Ich half ihr ungefähr zwei Stunden lang aus und als ich ging, wollte sie mir Geld anbieten. Ich nehme kein Geld von Freunden an. Ich helfe gerne. Das ist für mich selbstverständlich. Dafür möchte ich nicht bezahlt werden.

Homosexualität

Ein anderes Bild, das ich auf dieser Seite gefunden habe, zeigt, dass Homosexualität in Österreich erlaubt ist. Es stimmt schon – es gibt leider viele von uns, die ein Problem mit gleichgeschlechtlichen Beziehungen haben, weil es in unserer Kultur nicht thematisiert wird und als Sünde im Islam gilt. Mich stört das aber nicht. Die Leute können privat machen, was sie möchten.

Rolle der Familie

Auch Gewalt gegen Kinder ist in Syrien natürlich verboten. Manche Eltern sind gewalttätig, so wie in Österreich ja auch. Aber es ist eigentlich nicht erlaubt. Allerdings löst man bei uns familiäre Probleme kaum vor Gericht. Wir lösen die meisten Konflikte direkt unter uns. Bei uns spielt Familie eine sehr große Rolle. Auch Eltern haben in Syrien meiner Meinung nach einen höheren Stellenwert als in Österreich. Wenn mein Vater mich beispielsweise bittet, ihm Geld zu schicken, dann mache ich das, ohne zu fragen, warum. Und umgekehrt kann ich mich auch auf seine Hilfe verlassen, wenn ich mal in Schwierigkeiten stecke. Ich werde das Geld auch nicht von ihm zurückverlangen, denn er benötigt es vielleicht dringender als ich. Ein Sozialsystem wie in Österreich haben wir leider nicht. Bei uns ist die Familie das Sozialsystem. Deswegen ist es auch wichtig, dass wir immer zusammenhalten.

Modernes Leben

Viele dieser „Anweisungen“ und Regeln vermitteln der Gesellschaft einen völlig falschen Eindruck. Solche Bilder kann ich Kindern in der Schule zeigen, um ihnen beizubringen, wie sie sich in der Öffentlichkeit verhalten sollen. Aber ein Erwachsener fühlt sich dadurch beleidigt. Wir Syrer lebten nicht hinter dem Mond. Wir führten bis zum Krieg auch ein modernes Leben. Wir haben Häuser, wir haben Fernseher, wir haben Computer. Wir haben auch schnelles Internet und fortschrittliche Technologie. Also bitte, liebes Innenministerium, sieh uns nicht als Außerirdische. Gib uns lieber Information, mit der wir wirklich was anfangen können – wie zum Beispiel Unterschiede zwischen dem syrischen und dem österreichischen Arbeitsmarkt. Das wäre viel sinnvoller!

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Kommentare

 

Hi, ich hoffe dir im Gegenzug vielleicht etwas Einsicht in die andere Seite zu bieten.

Zum ersten, ich bin fest überzeugt dass alle der Dinge die im Folder vom Innenministerium angesprochen werden auf konkreten Vorfällen beruhen. Nein, nicht alle Flüchtlinge tun das. Aber es gibt konkrete Beispiele wo Kinder in der Flüchtlingsunterkunft von den Eltern geschlagen wurden (zb http://derstandard.at/2000033807410/Vater-verpruegelte-brutal-seinen-Soh... ) oder dass homosexuelle Flüchtlinge berichten dass sie gemobbt wurden oder dass sie in ihren Heimatländern Angst um ihr Leben hatten (ich glaube Biber selbst hat solche Geschichten gebracht).

Ich glaube man muss diese Anweisungen so lesen dass sie für den sind die es betrifft. Wenn es dich nicht betrifft dann kann es dir egal sein. Es ist für die Leute mit denen es wirklich Probleme gibt.

Vielleicht macht es für dich wirklich Sinn zu sagen, jeder Syrer weiß das, selbst wenn er aus dem kleinsten Dorf in den Bergen kommt. Aber in Flüchtlingsheimen sind nicht nur Syrer. Kannst du deine Hand ins Feuer legen für jeden Afghanen oder jeden Eritear oder jeden Somali? Diese Flüchtlingsinfoblätter sind für alle Flüchtlinge, nicht nur die Syrer.

Zum zweiten, helfen gegen Geld. Nein natürlich wird in Österreich für Freunden helfen kein Geld verlangt. Ich nehme an bei der alten Frau war die Reaktion vermutlich deswegen weil du "ausländisch" ausgesehen hast und sie Angst hatte du willst sie abzocken. Das ist natürlich sehr traurig und bedauerlich. Vielleicht kommt diese Angst von einigen Tourismusländern wo Touristen auf diese Arten bedrängt werden. Bei deiner Freundin kann es sein dass sie dir Geld geben wollte weil sie gedacht hatte du brauchst es. In österreichischer Sicht ist ein peinlich und irgendwie unangenehm wenn man Almosen annehmen muss. Und es ist nicht unüblich dass man versucht jemanden die Möglichkeit gibt dass er etwas nützliches machen kann damit man ihm das Geld geben kann ohne dass derjenige deswegen beschämt ist. Weil es eherhafter ist zu arbeiten als Geschenke zu bekommen.

Zum Dritten, ich glaube in den Augen vieler Österreicher ist dieser Schritt nicht mehr die Familie sondern den Staat als wichtigsten Autorität der Gesellschaft zu akzeptieren DER essentielle Schritt und der essentielle Unterschied zu "den anderen". Es ist nicht so dass das Konzept dass die Familie das wichtigste ist den Österreichern historisch fremd ist. Aber es wurde sich bewusst davon weg bewegt um ein höheres Maß an Gerechtigkeit für alle zu garantieren. In Gesellschaften wo die Familie das zentrale Element ist haben Leute die größere Familien haben große Vorteile über Leuten die keine große Familie haben. Auch in Österreich gab es vor 100 Jahren alte Weiblein ohne Mann deren Kinder verstorben waren und die ärmlichst von Bauernhof zu Bauernhof ziehen und ihren Lebensunterhalt verdienen mussten. Es ist ein wichtiger Schritt das als eine tragische Ungerechtigkeit zu sehen anstelle von unabwendbares Schicksal. In unserer Gesellschaft unterstützt der Staat so eine Frau. Er ist ihr das liebevolle Kind der sie ernährt, ihr eine Wohnung bietet und dafür sorgt dass sie Hilfe zuhause bekommt.

Und sagen wir da ist ein Mädchen welches belästigt wird. Was soll ein Mädchen machen dass keine Brüder hat welche sie beschützen? In Österreich braucht das Mädchen keine Bruder. Oder es ist in Ordnung wenn der Bruder nicht gut im Prügeln ist oder wenn er in eine andere Stadt zum Studieren gefahren ist. Das Mädchen braucht keinen Bruder weil sie zu jedem Polizisten gehen kann und es ist dessen Aufgabe ihr Bruder zu sein. Der Staat ist da um ihr Gerechtigkeit zu verschaffen.

Und genau dieses Grundkonzept, diese Bereitschaft sich an eine höhere Instanz zu wenden ist ganz wichtig um zu garantieren dass eine Gesellschaft friedlich ist. Ganz viele Dinge wo es zu Konflikten kommt können in den Augen der Österreicher auf genau so etwas zurückgeführt werden.

Ein Eltern töten die Tochter weil sie den falschen geheiratet hat. Sie tun das aus österreichischer Sicht genau weil sie glauben ihre Tochter gehört ihnen. Aber der österreichische Staat sagt: Nein. Jeder Einwohner ist auch Eigentum des österreichischen Staates. Darum kann es eben sein dass der Staat einschreitet wenn jemand seine Kinder oder Ehefrau stark verletzt. Diese Dinge kann der österreichische Staat verfolgen selbst wenn es keine Anzeige gibt.

Der Staat hat das Gewaltmonopol. Nur der Staat hat das Recht Gewalt anzuwenden. Damit das funktioniert sind beide Seiten wichitg, der Bürger dass er dem Staat vertraut und der Staat dass er veläßlich und vertrauenswürdig ist. Es ist unsere Pflicht als Bürger zu überwachen dass der Staat vertrauenswürdig bleibt, über Wahlen und Gerichtsverfahren. Wenn der Staat, die Polizei ungerecht ist dann gibt es eigene Organisationen die dafür kämpfen dass sowas aufgedeckt und bestraft wird.

Aber umgekehrt ist es auch die Pflicht des Bürgers eben auch bereit zu sein Autorität an den Staat abzugeben und eben nicht alles in der Familie zu lösen. Sowas führt in Wahrheit zu Ungerechtigkeit und mehr Leid. Man nehme Beispiele aus den Zeitungen wo jemand mit dem Messer geantwortet hat weil er beleidigt wurde. Aus österreichischer Sicht handelt er zutiefst umoralisch. Das richtige Verhalten wäre gewesen zum Polizisten zu gehen und den Beleidiger anzuzeigen.

Weil der Staat eben das Gewaltmonopol hat, nur der Staat hat Gewalt auszuüben und es seine Aufgabe ist alle anderen Arten von Gewalt zu verhindern. Nur so kann eine freidliche Gesellschaft existieren, wenn man bereit ist emotionale Dinge wie eben Beleidigung und Belästigung an möglicherweise neutralere Stellen wie eben einen Polizisten und Richter abzugeben.

Den Staat gewissermaßen als zusätzliches Familienmitglied zu akzeptieren und sich daran zu gewöhnen ist also absolut essentiell für das Leben in Österreich.

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