Wird Wien aus den Fehlern Frankreichs lernen?

05. November 2020

Symbolschwere Terroranschläge wollen symbolschwere Folgen provozieren. Terroranschläge verfolgen eine gewisse Logik und diese gilt es zu durchbrechen. Die Lehren aus den Fehlern Frankreichs. 

Von Berfin Silen

 

Es ist ein Schock, wenn man merkt, dass Terroranschläge vor dem eigenen Leben kein Halt machen. Keinen Halt vor der Stadt, die man als sein sicheres Zuhause erachtet. Wenn der Terror dieselben Straßen ab läuft, die man selbst durchquert hat, entstehen Bilder, die einem schwer aus dem Kopf gehen. Terrorismus hinterlässt unglaubliche psychische Spuren, aber nicht erst seit dem Terroranschlag in Wien. Wir leben in einer vernetzten Welt, in der wir durch die mediale Linse einen Zugriff auf jegliche Informationen haben. Das Gefühl für Raum und Zeit geht einem verloren, wenn eine Freundin aus Istanbul vor mir von dem Anschlag in Wien Bescheid weiß. Charlie Hebdo hätte auch meine Redaktion und Samuel Paty auch der Lehrer meiner Schwester sein können. Es ist unmöglich nur noch innerhalb nationaler Grenzen zu denken. Hass und Terror reißen diese nieder, deswegen müssen wir auch außerhalb dieser Grenzen nach Lösungen suchen. Warum die aktuellen Reaktionen gezielt in die Hände der Jihadisten spielen können und warum es sich gerade jetzt lohnt, einen mahnenden Blick nach Frankreich zu werfen: 

 

Halal-Produkte, ein Zeichen für Parallelgesellschaften

Der französischen Innenminister Gérard Darmanin hat vor kurzem behauptet, Halal-Produkte in französischen Supermärkten seien ein Zeichen für Parallelgesellschaften. Was aber wenn Menschen, die diese Produkte kaufen würden, den Supermarkt nicht mehr betreten dürfen? Das ist keine finstere Vorstellung aus dem letzten Jahrhundert, sondern Realität: Im Internet kursieren Fotos von Supermärkten, die es verschleierten Frauen nicht erlauben den Supermarkt zu betreten. Formiert sich da gerade eine Parallelgesellschaft, die eine andere Parallelgesellschaft ausgrenzt? Genau von solchen Spaltungen profitieren radikal islamistische Ideologien. Die Gleichung lautet: Jeder Anschlag lässt die anti-islamische Stimmung wachsen. Das wiederrum befördert die Abwendung von der demokratischen Mehrheitsgesellschaft und führt Menschen in die Arme der islamistischen Ideologie. 

Die französischen Vorstädte bieten dieser Radikalisierung perfekte Voraussetzungen. Sie entziehen sich schon lange der Kontrolle der französischen Regierung. Hier gilt: Geografische = demokratische Abtrennung. Macron kündigt dem radikalen Islam den Kampf an und Stunden später gibt es einen Toten mehr. Jegliche friedvolle Annäherung verschwindet im Schatten dieser verhärteten Fronten. 

 

Die Gleichung des Terrors

Bitte lasst uns in Österreich nicht auf diese Logik des Jihadismus hereinfallen. Bitte lasst uns nicht dieselben alten Debatten aufreißen, ob der Islam einen Platz in Österreich habe oder nicht. Darum geht es nicht. Diese Debatten sind ein verstaubtes Symbol und erstarrtes Festhalten an einer sogenannten österreichischen Identität, die die Fehler ihrer Integrationspolitik nicht erkennen will. Dadurch definiert sie jede Abweichung von dieser sogenannten Identität als nicht akzeptabel, ohne zu differenzieren. Islam ist nicht gleich Islamismus, und Islamismus ist nicht gleich Gewalt. Das hat wenig mit österreichischen Muslim:innen zu tun. Sie sind aber diejenigen, die Folgen dieses Angriffs ausbaden müssen. Sie sind die, die sich jetzt wieder rechtfertigen müssen, weil die Gesellschaft den Jihadismus mit dem Islam assoziiert. Ja, Muslim:innen sind viel stärker der Gefahr einer Radikalisierung ausgesetzt. Über den gelebten Islam soll und darf man streiten aber was hierbei ausgelassen wird, sind die Faktoren, die den Weg in die Radikalisierung beschleunigen: Integrationsprobleme. 

Wir sehen es mal wieder am Beispiel Frankreichs: Die Verschleierung einer Frau ist das Indiz für Terror, die es aus Supermärkten zu verbannen gilt. Durch die Verallgemeinerung sieht man aber nur einen möglichen Weg und diktiert den Menschen ein Werte- und Normsystem vor, dem sie sich anzupassen haben. Das bringt meist das gegenteilige Ergebnis: fehlendes Verständnis, Ablehnung und eine Verweigerungshaltung. Den Menschen wird durch diesen dogmatischen Assimilierungszwang die Freiheit zur Entscheidung genommen.

Wenn die Islamfeindlichkeit auch in Österreich weiter steigen sollte, laufen wir Gefahr, dass sich mehr Menschen nicht gehört und gesehen fühlen und sich weiter aus dem demokratischen Zusammenleben zurückziehen. In diesem politischen Vakuum setzt der gewaltbereite Islamismus an. Dort, wo Menschen demokratischen Werten den Rücken zu kehren. 

 

Veränderungen im Privaten und Öffentlichen 

Diese Logik müssen wir durchbrechen, sonst drehen wir uns im Teufelskreis, so wie es gerade in Frankreich passiert. Die Medien arbeiten dieselben Themen wie 2015 immer und immer wieder ab. Die islamfeindliche Stimmung steigt und Terroranschläge bleiben dann tragischerweise eine Konsequenz dieser aufgeheizten Politik, die erstarrt und reformunfähig ihrem Abgrund in die Augen schaut. Was es jetzt braucht, ist eine deeskalierende und empathische öffentliche (Medien-)Kommunikation, die ALLE Menschen, die in Österreich leben, verbündet und den Islam differenziert betrachtet. Es darf keinen Raum für destruktive Debatten á la oe24 geben. Das heißt nicht, dass man keine Kritik am Islam ausüben darf, man sollte nur die Krisensituation als solche anerkennen und dann empathisch und konstruktiv verfahren. Im privaten wie auch im öffentlichen Raum.

Wenn wir schon bei oe24 sind: Nächte, wie wir sie gestern erlebt haben, zeigen uns deutlich auf welche Medien wir zu unserem Wohl konsumieren und für das gesellschaftliche Wohl nicht konsumieren sollten. Follow the link. 

 

https://mein.aufstehn.at/petitions/einstellung-aller-offentlicher-forderungen-fur-oe24-und-reformierung-der-medienforderung

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