Zwischen Shoa und Srebrenica: Juden und Muslime werden eine Familie

21. August 2015

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MJC 2015
Foto: Daniel Shaked

„Natürlich sind wir ein bisschen wie ein Schmetterling über dem Waldbrand, der jeden Meter einen kleinen Tropfen abwirft.“

Der Wiener Verein „Muslim-Jewish-Conference“ (MJC) bringt vom 16. bis 22. August 120 JüdInnen und MuslimInnen aus aller Welt an einen Tisch und überwindet dabei Feindbilder. Dieses Jahr findet die Konferenz unter der Schirmherrschaft des deutschen Außenministers Steinmeier in Berlin statt.  Das Dialog-Projekt arbeitet an der Überwindung der Grenzen von Ignoranz und Vorurteilen durch Debatten und intellektuellen Austausch.

Ilja Sichrovsky, Begründer der MJC, spricht im Biber-Interview über seine interkulturelle Wahlfamilie und seinen Beitrag gegen Antisemitismus und Islamophobie.

MJC findet dieses Jahr bereits das sechste Jahr in Folge statt, gibt es dieses Jahr einen speziellen Schwerpunkt?

Ilja: Wir besprechen dieses Jahr eigentlich dieselben Themen wie schon letztes Jahr, der Grund dafür ist dass wir diese Themen als wichtig für die Teilnehmenden identifiziert haben. Das sind Islamophobie und Antisemitismus, Geschlecht und Religion und das Leben als Minderheit.

Wieso sind gerade Islamophobie, Antimuslimischer Rassismus und Antisemitismus immer noch wichtige Themen auch für die TeilnehmerInnen?

Ilja: Das ist vor allem deshalb ein unglaublich wichtiges Thema, weil es drei Gruppe von Menschen betrifft. Wir sprechen gleichzeitig über antimuslimischen Rassismus innerhalb der jüdischen Gemeinde, über Antisemitismus innerhalb der muslimischen Gemeinde und über die beiden Phänomene in der westlichen Gesellschaft in der die beiden Gruppen eine Minderheit darstellen. Das Gesprächsspektrum dieses Themas ist massiv und trifft die meisten Teilnehmer auch persönlich.

Eine deutsche Zeitung titelt zum Beispiel: „Juden und Muslime zerreden Feindbilder“. Sind die Feindbilder überhaupt noch die gleichen?

Ilija: Leider, ja. Das liegt vor allem an den Informationsquellen unserer globalisierten Welt. Lange genug wurden wir mit falschen Informationen konfrontiert. Daraus ergibt sich dann irgendwann ein Bild. Ich weiß das aus persönlicher Erfahrung. Ich war 25, bin in Wien aufgewachsen und war im politischen Spektrum ein eher linker und belesener Student. Als ich dann meinen ersten Muslim getroffen habe, war ich schockiert. Ich war schockiert über meine eigenen Vorurteile. Nach langer Reflexion habe ich bemerkt wie grundlegend meine Vorurteile gegenüber der anderen Seite waren.

War die Erkenntnis über die eigenen Vorurteile auch ein Anstoß für dieses Projekt?

Ilja: Das war tatsächlich der Anstoß für dieses Projekt. Ich habe gemerkt wie sehr ich mich verändere aufgrund einer einzelnen Person. Durch Mustafa, der mit mir damals lange diskutiert hat, habe ich gemerkt, welche Vorstellungen ich eigentlich von „dem“ Islam und „den“ Muslimen hatte. Als ich merkte wie gut das bei mir und Mustafa klappt, dachte ich, dass sollte doch auch in einer institutionalisierten Version funktionieren.

Was hast du aus den letzten sechs Jahren Lernprozess und Konferenzen für dich persönlich an Erinnerungen mitgenommen?

Ilja: Mein persönliches Highlight waren die drei Besuche an den Gedenkstätten. Die Intensität der Emotionen ist schwer in Worte zu fassen, wenn man zwei Gruppe nebeneinander hat die sich eigentlich hassen sollten. Plötzlich teilen diese zwei Gruppen dann Schmerz miteinander. Sie respektieren die Gefühl der anderen, auch wenn sie diese vielleicht nicht unbedingt teilen. Muslime haben uns gefragt, ob sie ein Gebet für die Toten bei einer KZ-Gedenkstätte halten dürfen. Das war der Punkt wo auch unsere europäischen Juden emotional geworden sind. Auch in Srebrenica sind sogar die Tour-Guides nach ihrer Schicht geblieben, weil sie so etwas noch nicht gesehen haben. Juden und Muslime zeigten einander: „Wir verstehen euch“. An diesen Stätten gibt es nichts zu diskutieren, sondern hier geht es darum einander in die Arme zu nehmen. Das ist das faszinierende an diesem Projekt, dass aus sogenannten Feinden in sieben Tagen Freunde werden und sich aus dieser Masse an Freunden eine Familie gründet. Es sind auch ähnliche Regeln wie in einer Familie. In einer Familie ist es nicht wichtig was man wählt oder welcher Meinung man ist. Es geht darum, wie man miteinander umgeht.

Letztes Jahr wurde in einem ägyptischen Medium über die MJC in Wien berichtet. Hier wurde das Bild eines Juden und einer Muslima gezeigt, die sich gegenseitig umarmen. Daraufhin sagten viele ÄgypterInnen: „Das geht doch nicht! Ein Jude fasst „eine von uns“ an“. Wenn man immer wieder von Antisemitismus in muslimischen Ländern beziehungsweise von Islamophobie in Israel hört, spornt das an oder will man dann auch manchmal aufgeben?

Ilja: Das spornt auf jeden Fall an. Unser Projekt ist nämlich größenwahnsinnig. Aber es gibt außer uns auch wenige Organisation, wo ein Saudi mit einem Amerikaner, ein Sudanese mit einer Brasilianerin und einem Afghanen in Kontakt kommt. Natürlich sind wir ein bisschen wie ein Schmetterling über dem Waldbrand, der jeden Meter einen kleinen Tropfen abwirft. Aber irgendjemand muss einmal anfangen.

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