Das gefundene Fressen

01. Februar 2012

Unterwegs mit den Mülltauchern von Wien, die den Mist der Supermärkte „stehlen“, essen und damit gegen unsere Wegwerfgesellschaft protestieren.

 

Freitagnacht im 18. Bezirk. Die beiden Studenten Marie (19) und Michi (22) könnten jetzt unten in den Gürtelbögen Party machen und unbeschwert in die Nacht tanzen, sie könnten bis Mittag schlafen und sich dann beim Billa fürs Wochenende mit Prosciutto, Oliven und Biomüsli eindecken. Doch die beiden streichen die Party und gehen gleich „einkaufen“ – um 00:30 Uhr.

Von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet, mit großen schwarzen Rucksäcken und einem Postschlüssel bewaffnet ziehen sie los in die Nacht – unterwegs zu den besten Plätzen zum „Dumpstern“. Dumpstern (dump = eng. Müll) bezeichnet die Mitnahme weggeworfener Lebensmittel aus Abfallcontainern großer Supermarktketten. Von New York ausgehend gibt es die „Dump Diver“ – also „Mülltaucher“ – mittlerweile auf der ganzen Welt. Es sind Menschen wie Marie und Michi, die sich gegen den Konsumwahn unserer Wegwerfgesellschaft wehren, die nicht akzeptieren können, dass bis zu 50 Prozent der Waren im Supermarkt einfach im Müll landen, weil sie vor Ablauf des Haltbarkeitsdatums nicht mehr verkauft werden.

 

Müll-Phantome

Auf dem Weg zum ersten Supermarkt zieht Marie Handschuhe über: „Man muss ja nicht alles mit bloßen Händen anfassen“. Die wenigen Passanten auf der Straße schenken den beiden wenig Aufmerksamkeit, die meisten sind um diese Uhrzeit schon betrunken und auf dem Heimweg oder aufgebrezelt unterwegs ins Nachtleben.

Der erste Markt. Eine bekannte Supermarktkette. Die Nervosität steigt. „Es ist wichtig, dass die Geschäfte nicht mehr beleuchtet sind“, erklärt Michi. In Österreich ist das stehlen von Müll keine Straftat, da dieser rechtlich als „herrenlose Sache“ gilt, trotzdem sind die beiden auf der Hut.  Marie schiebt vor dem Geschäft Wache. Das Aufbrechen von Schlössern ist für „Dump Diver“ tabu. „Wir haben es nicht nötig, zu randalieren. Das passt überhaupt nicht zu unserer Lebenseinstellung“, sagt Michi, während er  um das Geschäft schleicht. Er findet einen kleinen Eingang zum „Müllraum“ und öffnet ihn mit dem Postschlüssel. Der Raum ist klein und dunkel. Michi leuchtet ihn mit einer Taschenlampe aus. Im Eck stehen vier Container, zwei davon fürs Altpapier. Michi öffnet den ersten Container: Bingo! Er ist randvoll mit gut verpackten Lebensmitteln. Es sieht aus, als wäre jemand durch den Markt gegangen und hätte wahllos Brot, Joghurt, Krapfen, Schokolade, Gemüse, Obst und viele weitere Sachen in den Container geworfen. Auch der zweite Container ist randvoll. Dumpster Diver wissen: Das Angebot ist am Wochenende besonders groß, da am Freitag viele Waren aussortiert werden – ein gefundenes Fressen!

 

„Wir nehmen nur mit, was wir auch wirklich brauchen oder an Bedürftige verschenken können. Den Rest lassen wir hier“.

 

Frisch verpackter Müll

Während Michi den Container mit der Taschenlampe ausleuchtet, wird er emotional: „Warum sieht man in Österreich nie halbleere Regale? Weil es fürs Auge nicht appetitlich aussieht, wenn nicht alles schön in einer Reihe ganz aufgefüllt ist. Die meisten Supermärkte bestellen die Ware automatisch nach und werfen die alten, überschüssigen Artikel einfach weg, weil sie keinen Platz zum Lagern haben. Diese Überproduktion ist ein Wahnsinn. Mir hat der Film ,We feed the world‘ die Augen geöffnet.“ Er wolle da nicht mehr mitmachen, deswegen gehe er dumpstern, erklärt er seine Philosophie.

Die Meisten stellen sich die Abfallcontainer von Supermärkten wie die Biotonne daheim vor: ein riesiger Haufen Speisebrei, den niemand auch nur anrühren möchte. In der  Realität, sind heute beinahe fast alle Produkte in Kunststoff eingeschweißt und damit bestens vor Schmutz geschützt. Die Artikel werden meist bloß wegen Druckstellen oder abgelaufenen Mindesthaltbarkeitsdatum weggeworfen, die in Österreich extrem streng und kurz angesetzt sind. So ist Kaffee laut Verpackung meist nur ein Jahr haltbar, in Wirklichkeit aber einige Monate länger bedenkenlos genießbar.

 

Giftattacken

Michi steckt die Nase tief in den Container und riecht kräftig hinein. „In letzter Zeit wurden immer wieder Abfalleimer mit Rattengift oder Reinigungsmittel vergiftet, um sich „Schädlinge“ vom Hals  zu halten. Damit werden Menschenleben in Kauf genommen. Außerdem ist es total unmenschlich, Nahrung so zu vernichten.“

Die Ware besteht den Geruchstest: „Wir haben Glück, die Lebensmittel sind sogar noch kühl und offensichtlich frisch weggeworfen.“ Er zückt den Rucksack und dumpstert die ersten Produkte. „Wir nehmen nur mit, was wir auch wirklich brauchen oder an Bedürftige verschenken können. Den Rest lassen wir hier“.

Michi schließt die Tonnen und die Türe des Müllraumes ordnungsgemäß ab. Draußen hat es zu regnen begonnen, Marie hat sich die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. „Es ist nicht immer leicht, was wir tun, aber es zahlt sich immer aus.“ Sie ziehen weiter zu einem Discounter. Als Marie gerade über den Zaun zu den Tonnen klettern will, schreit Michi: „Achtung Kiwara!“ Sie gehen in die Hocke und verstecken sich in der Dunkelheit, ihr Herz schlägt. Einige ihrer „Kollegen“ wurden schon  angezeigt, wegen den niedrigen Wert aber wieder freigelassen. „Wir wollen uns  den Ärger ersparen“, sagt Marie. Als sich die Lage wieder beruhigt hat, beginnt das Spiel von vorne.

 

Müll-Menü

Auch beim Disconter sind die Tonnen voll mit Brot, Gemüse und Süßigkeiten. Recycling ist hier offenbar ein Fremdwort: Gemüse, Konservendosen, Kunststoff, Glas … alles landet einfach im Restmüll, wahrscheinlich um Zeit und Geld zu  sparen.

 

„Wir laden Freunde und Bekannte ein und genießen den Müll.“

 

Nach drei Stunden ist das Pärchen mit den vollen Rucksäcken zurück in ihrer Wohnung. Sie begutachten die Sachen im Licht noch einmal genau, anschließend säubern sie die Verpackungen. Nur die Tomaten haben schon angefangen, zu schimmeln. Sie landen dort, wo sie hingehören: am Biomüll. Der Rest ist einwandfrei. Das Gemüse wird abgekocht und eingefroren, der Rest säuberlich verstaut oder in Kartons für Freunde und Obdachlose zum verschenken aufgehoben. „Bei uns wird meist am Sonntag groß gekocht! Wir laden Freunde und Bekannte ein und genießen den Müll.“ Der Speiseplan ist vorher nie so genau klar: „Wir wissen ja vorher nicht genau, was wir finden.“

 

Von Julia Kornherr und Philipp Tomsich (Fotos)

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Kommentare

 

ich hab echt viel darüber nachgedacht, und bin zu dem schluss gekommen:

ich werde dumpstern nicht als lösung betrachten. nur als übergangslösung, aber sicher nicht als endgültige lösung.

wenn wir irgendwann an dem punkt angekommen sind, an dem genauso viel produziert wie konsumiert wird und nicht mehr und nicht weniger, dann brauchen wir auch gar keine gegenbewegungen.

 

und irgendwie ist es den meisten ja auch "egal", ob "müll" von manchen leuten auch noch gegessen wird. im konsumverhalten der übrigen ändert sich nämlich nichts. da müsste man mal ansetzen.

ich weiß also nicht, ob ich dumpstern als protest gegen die wegwerfgesellschaft sehen will. ich bin nicht der meinung, dass es ein wirklicher protest ist... jedenfalls nicht sichtbar.. 

toll, dass biber drüber geschrieben hat !

 

hallo zeynep,

na klar ist das keine "lösung" sondern nur besseres restposten-management.

der grossteil der verschwendeten lebensmittel landet nicht im supermarkt-müll. am meisten wird vernichtet/zurückgehalten, um den preis (hoch) zu halten.

verschärft hat sich die situation seit mehr Bio-Treibstoffe dem Benzin zugefügt werden (in Frankreich 5% mehr, in Mexico Tortilla-Krise 30% Preissteigerung auf Mais...)

... oder an Grossvieh (Kühe, Schafe, Schweine) verfüttert - 9kg Getreide/Soja für ein kg Fleisch.
vgl: 100g (trockene) Soja-Bohnen: 1l Sojamilch, 1/4 kg Tofu oder 200g gekochte Bohnen!

es geht viel mehr um die produktion und die verteilung - im Kapitalimus wird halt nicht für Hungrige sondern für Leute mit Geld produziert. So kommt der Hunger in die Welt.

"we feed the world" zeigt ein paar mehr details; die die sinn-erfasend lesen können ;-) wird vielleicht "Empire der Schande" von Jean Ziegler (Welt-Hunger-Komissär) interessieren, wenns es nicht eh schon kennts.

ein buch aus Wien (und leicht zu lesen) ist vom klaus-werner lobo "wem gehört die welt".

 

Da wird man in der hak mit Ökologie und Öko management konfrontiert, nimmt man sogar als schwerpkt.

Maturiert in dem gebiet- macht ein bachelor studium, schreibt später eine diplomarbeit und schreibt später im Standard, wenn man ausgelernt hat, wie schlecht wir es haben und macht verbesserungsvorschläge und appeliert and die Vernunft des Menschen.

In biologie einfach besser aufzupassen oder meinetwegen auch volkswirtschaft "wegwerfgesellschaft " den begriff einmal gehört und verstanden zu haben, genügt doch um später am abend in den discounter zu gehen um sich dort was abzugreifen.

 

aber wenn es so einfach ist reinzusteigen, wieso macht es nicht jeder 2te

 

ganz einfach;

ich hab zu viele zwänge gesellschaftlich, tradtionelle, moral und anstand und nicht zu vergessen die erziehung und sitte

 

 

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