"Ganz Iran skandiert die kurdische Parole: Frau, Leben, Freiheit."

17. Oktober 2022

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Iranische Schulmädchen zeigen dem Regime den Stinkefinger. Quelle: instagram.com/from____iran

Seit ganzen vier Wochen toben im Iran Proteste. Was im Evin-Gefängnis geschah und was die Proteste für die Lage im Nahen Osten bedeuten, erklärt der aus dem Iran stammende Schriftsteller Sama Maani.

Interview: Nada El-Azar-Chekh

BIBER: Warum brannte es im berüchtigten Evin-Gefängnis?

Sama Maani: Den genauen Grund kennen wir noch nicht. Am Samstagabend brannten Teile des Gebäudes, es waren stundenlang Schüsse zu hören und es wurde Tränengas eingesetzt. Die Behörden sprechen von vier Toten und 60 Verletzten. Die tatsächliche Zahl der Opfer dürfte weit höher liegen. Der Behauptung des Regimes, es hätte einen Zusammenstoß zwischen Häftlingen gegeben, glaubt niemand. Vermutlich hat es Proteste der Inhaftierten im Zusammenhang mit der aktuellen Protestwelle gegeben. Ähnliches hat sich zuletzt auch in Gefängnissen einiger Provinzstädte zugetragen.

Welche Bedeutung hat dieses Gefängnis für das islamische Regime?

Im Evin-Gefängnis werden neben politischen Häftlingen auch gewöhnliche Kriminelle untergebracht. Insgesamt bis zu 15.000 Menschen. Evin ist für Folterungen und Hinrichtungen berüchtigt. Viele der Massenhinrichtungen im Sommer 1988 fanden in Evin statt. Seit Beginn der Protestwelle wurden dort hunderte vorwiegend junge Menschen untergebracht, deren Eltern nun höchst alarmiert sind. Das Gefängnis dürfte nun – wieder einmal – überfüllt sein. Vielen drängt sich nach dem Brand der Vergleich mit dem Sturm auf die Bastille am Beginn der Französisch Revolution auf. Es wurden aber auch Erinnerungen an den Brandanschlag auf das Cinema Rex im Sommer1978 wach, bei dem hunderte qualvoll starben. Der Brand wurde von Anhängern des Führers der Islamischen Revolution, Ruhollah Khomeini, gelegt, zunächst aber dem damaligen Regime zur Last gelegt.

Was unterscheidet die jüngsten Protestbewegungen Iran von vorigen? 

Es geht bei diesen Protesten – wie schon bei den Protesten 2017 und im November 2019, als über 1500 Menschen erschossen wurden – nicht um irgendwelche Forderungen an das Regime. Die Menschen fordern in ganz Iran das Ende der Islamischen Republik. Die Proteste laufen derzeit seit über vier Wochen praktisch Tag und Nacht und haben zu einer beispiellosen Solidarität zwischen verschiedenen Ethnien geführt. Über 50 Prozent der Menschen im Iran haben nicht Persisch als Muttersprache, sondern Kurdisch, Türkisch, Arabisch, Belutschisch, etc. Die Gräuelpropaganda über den Zerfall des Irans im Falle des Sturzes des Regimes wird nun täglich auf den Straßen widerlegt. Die Parole dieser Revolution – Frau, Leben, Freiheit [Anm.: Jîn, jiyan, azadî] – stammt aus Kurdistan und wird nun in ganz Iran, auch von nicht-kurdisch-sprachigen Protestierenden, oft im kurdischen Original skandiert. Darüber hinaus könnten diese Proteste Weltgeschichte schreiben, handelt es sich doch um eine von Frauen angeführte Revolution, mit dem Ziel, sich selbst, aber auch die Männer zu befreien. Und das in einem islamisch geprägten Land! In dem allerdings laut einer repräsentativen Umfrage über 70 Prozent der Menschen sich nicht als schiitische Muslime betrachten.

Die von der Sittenpolizei ermordete Jina (Mahsa) Amini ist eine Gallionsfigur der Proteste geworden – welchen Effekt hat dies noch?

Absolut einzigartig ist auch die Rolle der Schulmädchen, die mittlerweile, zusammen mit den Studierenden, die Führungsrolle bei den Protesten übernommen haben. Und die massenhaft ihre Kopftücher abnehmen und Nieder mit Khamenei! skandieren. Das sind Kinder und Jugendliche, die seit frühester Kindheit einer brutalen Gehirnwäsche und Disziplinierung unterworfen sind. Jetzt müssen die islamischen Herrschaften mit Entsetzen ansehen, wie ihre Kinder dem islamischen Staat, ihrem Begründer und ihrem Führer den Stinkefinger zeigen. Und sie zur Hölle wünschen.

Wie reagiert die Regierung auf die Proteste?

Wie sie es immer getan hat. Mit brutaler Unterdrückung, mit Internetsperren und Propagandalügen (z.B.: „Die Proteste werden von den USA und Israel gesteuert“). Diesmal – und das ist ein weiterer Unterschied zu früheren, „pazifistischen“ Protesten – schlagen die Menschen aber zurück. Unter anderem mit Steinen und Molotow-Cocktails. In zahlreichen Videos sieht man die Sicherheitskräfte auf der Flucht. In vielen Städten waren die Straßen für Stunden unter der Kontrolle der Protestierenden.

Welche Rolle spielt internationale Solidarität mit den Protestierenden für das Regime?

Eine sehr große. Den Lobbyisten des Regimes ist es gelungen, in Europa und in den USA das Märchen zu verbreiten, dass ein Sturz des Regimes zu einer Katastrophe in der gesamten Region führen, dass der Iran zerfallen und ein zweites Syrien werden würde. Diese Sichtweise bestimmt die europäische Außenpolitik, dem Iran gegenüber. Und kommt dem Regime seit Jahrzehnten zugute. Das Ende der Islamischen Republik würde aber die Chancen auf einen Frieden im Nahen Osten erhöhen. Der Iran hat ja bei fast allen Konflikten in der Region seine Hände im Spiel. Ganz zu schweigen vom Ende der Gefahr, die von der drohenden atomaren Bewaffnung des Regimes für Israel ausgeht. Der Druck westlicher Öffentlichkeiten könnte nun helfen, diese unheilvolle Außenpolitik zu beenden.

Gibt es Anzeichen auf eine nachhaltige Verbesserung der politischen Lage im Iran?

Diese Anzeichen wird es erst dann geben, wenn die Islamische Republik Geschichte ist. Dass sie nicht reformierbar ist, hat sie seit Jahrzehnten immer wieder unter Beweis gestellt. Kein Wunder, dass „Reformer“ im Iran mittlerweile als Schimpfwort gilt. 

Wie kann man vom Ausland aus die Proteste unterstützen?

Indem man als Bürgerin/Bürger von demokratisch verfassten Staaten ihre/seine gewählten Volksvertreter in die Pflicht nimmt, von Menschenrechten nicht nur zu reden, sondern auch Taten zu setzen. Etwa indem man die diplomatischen Beziehungen zur Islamischen Republik zumindest hinunterfährt.

 

 

 

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Kommentare

 

Gerade der Iran, der wie Kuba über eine gebildete und demokratiewillige Bevölkerung verfügt, würden schnell ein demokratisches und freies System umsetzten und stabilisieren können. Einfacher bekommt man die Probleme nicht gelöst.
Einmischung von aussen bringt nichts, das müssen die Iraner allein machen.

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