Chronik eines angekündigten Haftbefehls

08. September 2022

Der Soziologe Kenan Güngör wird vom türkischen Staat per Haftbefehl gesucht. Warum eigentlich? Darüber schreibt er in einem persönlichen Kommentar exklusiv im biber.

 
Kenan Güngör
© Magdalena Possert
 
Für alle, die sich kritisch über das antidemokratische und repressive Erdoğanregime in der Türkei oder dessen systematische Unterdrückung der Kurden äußern, kann es sehr schnell eng werden. Die Nachricht, dass der türkische Staat mich per Haftbefehl sucht, hat mich daher weder schockiert noch überrascht. Von einem Unrechtsregime ist das erwartbar. Überrascht war ich allerdings, dass gleich zwei Anklagen, eine wurde inzwischen aufgehoben, gegen mich vorlagen und sogar als geheim eingestuft wurden. Eine wegen Beleidigung des Präsidenten – der offensichtlich sehr schnell beleidigt ist. Denn das Erdoğanregime hat bisher 160.000 Menschen diesbezüglich verklagt. Der Zweite aufgrund angeblicher Unterstützung einer Terrororganisation. Ein in der Türkei inzwischen sehr inflationär gebrauchter Vorwand gegenüber Menschen, die sich für die Rechte der Kurden einsetzen und sich z.B. mit den kurdischen Kräften in Syrien solidarisieren. Ja, mit jenen Kräften, welche die Terrororganisation Islamischer Staat mit Unterstützung des Westens tapfer und mit viel Blutzoll bekämpft haben und Erdoğan dafür kritisieren, dass er mit den von ihm unterstützten islamistischen Terrororganisationen versucht, die Kurden in Syrien niederzuschlagen. Viele im Ausland lebende Erdoğan-Kritiker werden über den konkreten Inhalt der Anklage absichtlich im Dunklen gelassen, sodass sie nichtwissend in die Türkei einreisen und festgenommen werden. Das war auch in meinem Fall so beabsichtigt.
 
Den Angeklagten im Dunkeln lassen - Kafka lässt Grüßen
 
Ich bin die letzten sechs Jahre aufgrund einer möglichen Verhaftung nicht in mein Heimatland gereist. Dieses Unwissen, ob und was gegen einen vorliegt, ist auch machtstrategisch ein Instrument, um Menschen bewusst in einer ängstigenden Unsicherheit zum Schweigen zu bringen.  Nun ist mein Unwissen der Gewissheit gewichen, dass man gesucht wird und man nicht schweigen darf. In einem Rechtsstaat gilt die Unschuldsvermutung so lange, bis die Anklage die Schuldigkeit bewiesen hat. In der Türkei gilt das Gegenteil – du bist in den Augen des Staates schuldig bis du deine Unschuld bewiesen hast, sofern das überhaupt möglich ist. Ein nahezu hoffnungsloses Unterfangen, denn ohne jegliche Kenntnis der Anklageschrift und der Gründe ist es auch nicht möglich, eine Verteidigung vorzubereiten.  Diese kafkaeske Vorgehensweise zeigt die Willkür und das systematische Unrecht im Rechtssystem. 
 
Wenn Recht zu Unrecht wird…
 
Doch überall, wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht, sagte Bertold Brecht. Gerade in einer Zeit, wo Hunderttausende unter diesem totalitären System leiden, in den Gefängnissen darben, ihrer Existenzen, Freiheiten und Identität beraubt werden und die meisten zum Schweigen gebracht wurden, war es für mich wichtig, auf diese Missstände hinzuweisen. Gegen repressive Systeme zu kämpfen hat seinen Preis. Das bin ich mir stets bewusst gewesen und bereit zu zahlen, wenn es sein muss. Auch wenn Kritiker in Österreich  vor der türkischen Zensur und Verfolgung nicht ganz geschützt sind,  bin ich doch in der glücklicheren Lage, hier und nicht in der Türkei zu leben. Denn dort sind die Konsequenzen um ein vielfaches zerstörerischer. Mein Ziel war es, meine Bekanntheit dafür zu nutzen, um mit meinem Fall die Stimme für jene zu erheben, die es selber nicht (mehr) können. 
 
Leben in widersprüchlichen Welten und Normalitäten
 
Ein Teil der Menschen mit transnationalem Background lebt in verschiedenen Welten mit völlig widersprüchlichen Realitäten, Werten und Normalitätsannahmen. Es ist ein Switchen von der einen in die andere Welt und stets eine Zerreißprobe. So hältst du hier einen Vortrag über die Ethik, Integration oder das Zusammenleben in einem gediegenen Rahmen und erhältst parallel Nachrichten, dass Freunde bzw. Verwandte festgenommen wurden oder viel Schlimmeres passiert ist. Diese Risse und Widersprüchlichkeit in der Gleichzeitigkeit kennen Menschen, die aus diktatorischen Regimen oder aus Kriegsgebieten kommen, nur zu genau. 
 
Ich kenne dies seit meiner Kindheit und hoffe, dass meine Kinder keine weiteren 40 Jahre dafür kämpfen müssen, damit alle Menschen in der Türkei endlich in Würde und Freiheit leben können.  Das Gefühl, dass es die hundertfache Anstrengung braucht, um etwas aufzubauen und nur ein Hundertstel, um alles wieder zu zerstören, ist leider das Ungleichverhältnis zwischen den konstruktiven und destruktiven Kräften. Im Wissen um die Verletzlichkeit zivilisatorischer Errungenschaften müssen wir weiterhin dafür einstehen und kämpfen. Denn wir sind nicht nur verantwortlich für das was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun. Das Leben ist kein Film und wir keine Zuschauer! ●
 
 
 
Kenan Güngör, 53, ist deutscher Soziologe und Politikberater. Anfang August erfuhr der in Wien lebende Familienvater von seinem Anwalt, dass er in der Türkei per Haftbefehl gesucht werde. Anklage: Präsidentenbeleidigung und Terrorismus. 
 

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