Das ist nicht unser Jihad

28. Februar 2020

Sie wollten in Syrien für Allah töten und ihr Land vor Ungläubigen verteidigen, jetzt bewahren sie radikalisierte Jugendliche davor, dieselben Fehler zu begehen. Drei ehemalige IS-Sympathisanten über den Ausstieg und die Warnung – die Ideologie lebt auch heute in Wien weiter. 

Von Aleksandra Tulej, Fotos: Marko Mestrovic und Zoe Opratko

Foto: Marko Mestrovic
Foto: Marko Mestrovic

"Ich dachte mir, indem ich jetzt nach Syrien gehe, kann ich all dem ein Ende setzen.“ Aslan hatte im Dezember 2014 schon seine Sachen gepackt und war auf dem Weg zu einem abgemachten Treffpunkt an einem Wiener Busbahnhof, von dort aus hätte man ihn über die Türkei nach Syrien geschleust – dort wollte sich der damals 16-Jährige dem sogenannten Islamischen Staat anschließen. Er war bereit, für den IS in den Jihad zu ziehen. Fast alle seine Freunde von damals waren schon in Syrien und haben für den IS gekämpft – überlebt hat keiner. Aslan hatte Glück: Als er am Bahnhof stand und Ausschau nach dem Mittelsmann hielt, fingen ihn sein Vater und sein Onkel dort ab – und brachten ihn zurück nach Hause. Seine Cousine, der sich der heute 20-jährige Tschetschene anvertraut hatte, hatte ihn verraten. Verraten – so sah er das damals, das war 2014. Heute ist er ihr dafür mehr als dankbar. Ich treffe an einem Abend im Februar 2020 Aslan und seine Freunde Yusuf und Alen, die alle ehemalige IS-Sympathisanten sind, um über ihre Vergangenheit, ihren Ausstieg und ihre Zukunft zu sprechen. Mittlerweile haben sie alle der radikalen Ideologie den Rücken gekehrt. Die jungen Männer setzen sich heute aktiv gegen Radikalismus und die Ideologie ein, von der sie einst Teil waren. Deshalb müssen für diese Story ihre Namen geändert und ihre Gesichter unkenntlich gemacht werden. „Wegen den Leuten von früher“, wie mir Aslan erklärt. 

„Damals wurde der Jihad ausgerufen, heute wird er geflüstert.“

Also jenen Wienern, die heute noch mit dem IS sympathisieren. Nachdem die Terrormiliz Islamischer Staat im März 2019 weitgehend zerschlagen wurde und das Medienecho rund um den IS verstummt ist, lebt die Ideologie noch im Untergrund weiter. Auch in Wien. „Du würdest dich wundern, in wie vielen Gemeindebau-Wohnungen im 20. oder 21. Bezirk in Wien noch heute die IS Fahne hängt“, sagt Aslan. „Nur jetzt passiert das halt unauffällig. Das ist nicht mehr wie früher, dass die Typen lange Bärte und Gebetskleidung tragen – die sehen jetzt ganz normal aus. Aber aus meiner persönlichen Erfahrung kann ich dir sagen, dass es jetzt nicht weniger IS Anhänger in Wien gibt als früher.“ Nur wird die Ideologie eben im Stillen gelebt. „Damals wurde der Jihad ausgerufen, heute wird er geflüstert“, resümiert Aslan. Es gibt laut dem BMI und dem Verfassungsschutz keine offziellen Zahlen dazu, wie viele IS-Sympathisanten heute noch in Wien leben. Die Dimension kann man nicht einfangen – auch deshalb sind die Aussteiger vorsichtig. Das Problem sei nicht der Ausstieg – sondern die Tatsache, dass die Jungs heute genau gegen die Menschen arbeiten, die sie selbst früher waren. 

„Ich hatte so einen Hass gegen den Westen“


Als ich Aslan, Yusuf und Alen zum ersten Mal treffe, ist mein Eindruck „krasse Jungs“. Breite Schultern, fette Uhren, schwarze Alpha-Industries-Klamotten, breitbeiniger Sitz. Doch als Aslan beginnt zu sprechen, merke ich sehr schnell, dass sich hinter dieser Fassade sehr viel Intelligenz und Scharfsinnigkeit versteckt. Aslan wählt seine Worte bewusst, spricht selbstsicher und blickt seinem Gegenüber stets in die Augen. Er macht keine halben Sachen, das wird schnell klar. 

Foto: Marko Mestrovic
Foto: Marko Mestrovic

„Bruder, gerade du könntest so viel für den IS tun“

Als Jugendlicher trug Aslan so viel Wut und Hass in sich – gegen „den Westen“, wie er selbst sagt, gegen den Staat und vor allem gegen die Ungerechtigkeit innerhalb unserer Gesellschaft – die hat er von klein auf mitbekommen. 

In Österreich war er von Anfang an mit polizeilichem und pädagogischem Rassismus konfrontiert, wie er selbst erzählt. Er fühlte sich ausgegrenzt und angegriffen. „Wenn die mich als Teufel sehen, gebe ich mich auch als Teufel“, war Aslans Credo. Er fing an, die Schule zu schwänzen, geriet schnell auf die schiefe Bahn: Prügeleien, Sachbeschädigung – die klassische Kleinkriminellen-Karriere eben. Die Anzeigen häuften sich – bis Aslan kurz vor seinem 15. Geburtstag schließlich im Gefängnis, der JVA Josefstadt, gelandet ist. Während seiner siebenmonatigen Haft wurde sein Hass auf den Staat und das System noch größer. „Ich habe dort im Gefängnis ältere Afghanen kennengelernt, die eigentlich weit über 30 waren, sich aber als Siebzehnjährige ausgegeben haben“, erklärt Aslan. Sie bekräftigten ihn in seiner Ansicht, dass ihn hier in Österreich niemand will und dass er gegen diese Ungerechtigkeit kämpfen muss. „Bruder, in Syrien ist gerade Krieg. Du solltest dich Dawla anschließen, das wäre dein perfekter Weg. Russland hat dein Land bekämpft, deine Verwandten umgebracht – jetzt kannst du dich dafür rächen. Bruder, gerade du könntest dort so viel Gutes für Muslime tun“, bekam Aslan von ihnen zu hören. 

 

„Dort sind gute Brüder, die bringen dir alles bei“

Sein Vater hatte ihn immer davor gewarnt, sich jeglicher Art von Gruppierung oder Ideologie anzuschließen – die Worte seiner Mithäftlinge ergaben für den Jugendlichen damals mehr Sinn. TV-Nachrichten darüber, dass Assad gerade Giftgasanschläge in Syrien verübt und der Bevölkerung Leid zufügt, bekräftigen ihn darin noch mehr. Von den Männern im Gefängnis hat Aslan eine Wiener Moschee empfohlen bekommen, an die er sich „draußen“, also nach dem Absitzen seiner Strafe, wenden sollte. „Dort sind sehr viele gute Brüder, die zeigen dir alles und bringen dir alles bei“, hatte es geheißen. Und so war es auch. Er fing an, mit diesen „Brüdern" abzuhängen – zuerst schien es wie ein „stinknormaler Freundeskreis, wir waren grillen, schwimmen, und so einen Scheiß“, sagt er und winkt ab. Aber nach und nach begann die Gehirnwäsche. Aslan bekam mit, wie seine neuen Freunde Dinge sagten wie „Hast du gehört, was da in Syrien passiert ist? Mashallah, unsere Brüder sind siegreich geworden“, ihm IS-Propaganda Videos zeigten, in denen Leute abgeschlachtet werden. Seine „Freunde“ waren unter anderem sogenannte Kader (in der Szene Da‘i genannt) also Menschen, die junge Männer anwerben wollten, sich der Ideologie anzuschließen. Nach und nach rutschte Aslan in die jihadistische Wiener Szene ab. Bis er sich eines Tages sicher war, dass in den Jihad zu ziehen der einzig richtige Weg ist. „Du bist jetzt bereit, sie brauchen dich dort“, hieß es. Und Aslan war bereit. „Als ich damals am Bahnhof gestanden bin und auf einmal ein Auto vorgefahren ist, in dem mein Vater und Onkel saßen, habe ich‘s ur nicht gepackt“, sagt er. 13 Stunden lang hat sein Vater danach auf ihn eingeredet – abwechselnd geschrien, geredet, geschrien – und es hat gewirkt. „Mein Vater hat mir damals eine Moschee empfohlen, durch den Imam dort wurde mir bewusst, dass alles, was ich davor geglaubt habe, einfach totaler Blödsinn ist. Das, was die Männer, die sich meine Brüder nannten, mir eingeredet haben, steht nirgends im Koran.“ Die Männer, die sich seine Brüder nannten, hatten natürlich Wind davon bekommen, dass Aslan noch in Wien ist. „Kafir, Ungläubiger“, nannten sie ihn. „Die hatten schon ein bissi Respekt, weil ich Kampfsportler bin, aber als ich dann begonnen habe, mich in verschiedenen Jugendzentren und Projekten zu beteiligen, die sich gegen deren Ideologie richten, hat es ihnen gar nicht mehr getaugt.“ Es folgten Morddrohungen und daraufhin ein Angebot auf Polizeischutz. „Aber das brauch ich nicht, ich mach ja MMA“, sagt Aslan selbstsicher. 

"Wenn die mich als Teufel sehen, gebe ich mich auch als Teufel"

Angezeigt durch den eigenen Vater

„Schau, das ist jetzt nicht so, dass dir jemand auf einmal sagt: Jihad, Bruder, da, geh hin“, wirft Aslans Freund Yusuf ein. „Die schmieren dir zuerst so viel Honig ums Maul, bis sie dich komplett haben.“ Der 20-Jährige ist in Pakistan geboren und lebt seit 19 Jahren in Österreich. Er gibt sich lockerer als Aslan, reißt Witze und erzählt viel durcheinander: Zu erzählen hat er einiges. Schnell gewinne ich den Eindruck, dass auch er viel durchgemacht hat. Yusuf hatte eine ähnliche Geschichte wie Aslan: „Ich war in meiner Klasse der einzige Schwarzkopf, ich wollte lieber mit meinesgleichen abhängen.“ Mit 14 lernte er dann auch „seinesgleichen“ kennen. „Ich habe mich geprügelt, hab Leute abgezogen, um zu zeigen: Schau wie leiwand ich bin“. Auch er fand schnell die falschen Kreise. „Damals sind die Kids mit ISIS-Kappen und T-Shirts rumgelaufen. Damals wusste ja keiner, was dieses Logo bedeutet.“ Yusuf spricht von Anfang 2014, einer Zeit, als die Terrormiliz IS in Europa der breiten Masse noch weitgehend unbekannt war. Als das Kalifat am 29. Juni 2014 ausgerufen wurde, hat sich alles geändert. Am 24. September 2014 verabschiedete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einstimmig eine Resolution für den weltweiten Kampf gegen den Islamischen Staat. Ab 1. Jänner 2015 wurden Symbole des IS in Österreich per Gesetz verboten. „Als diese Vereine für eine Terroristengruppierung erklärt wurden, hat jeder begonnen, seine Fresse zu halten. Das waren so unauffällige Moscheen, und als die geschlossen wurden, hat man sich irgendwo bei wem zuhause getroffen. Die Typen haben Sachen gepredigt, für die man sie sofort verhaften würde, wenn sie das öffentlich getan hätten.“ Auch Yusuf war schon am Weg nach Syrien. „Ich habe es aber nicht behindert gemacht, wie die meisten. Ich habe meinen Bart rasiert, habe mich davor ganz normal verhalten, dass meine Eltern dachten, ich würde einfach auf Urlaub nach Bulgarien fahren.“ Bis nach Bulgarien hatte er es auch schon geschafft, weiter aber nicht. „Ich wurde an der Grenze verhaftet. Wegen Verdacht auf Mitwirken an einer terroristischen Organisation.“ Yusuf wurde zurück nach Österreich gebracht, wo er erstmal vier Stunden lang vom Verfassungsschutz befragt wurde. Er wusste, dass jemand ihn verraten haben musste, der Verfassungsschutz hatte bei ihm zuhause mittlerweile alles durchsucht – sein Laptop und Handy wurden konfisziert. Als das Verhör zu Ende war, wartete Yusufs Vater vor dem Eingang auf ihn: Er war derenige, der seinen Sohn beim Verfassungsschutz angezeigt hatte – und rettete ihn somit vor dem sicheren Tod. „Meine besten Freunde, mit denen ich Tag und Nacht unterwegs war, sind alle zum IS gegangen. Keiner von denen lebt heute noch.“ 

 

Foto: Marko Mestrovic
Foto: Marko Mestrovic

 

„Das ist wahrscheinlich mein letzter Atemzug, sag meinen Eltern, dass ich sie liebe“.

Am Anfang sah alles noch 
rosig aus. Über Nachrichten-
Apps wie Telegram und
 Threema kommunizierte Yusuf
 mit seinen Freunden im Islamischen Staat, die ihm berichteten,
 wie „‚leiwand‘ es dort ist, so auf ‚Baba Wetter, hier sind deine
 Brüder, wir warten auf dich“, zitiert Yusuf. Nach und nach wurden die Nachrichten seltener – teils deshalb, weil einige bereits
 tot waren, teils deshalb, weil das Weltbild seiner Freunde 
immer mehr auf den Kopf gestellt wurde. „Irgendwann hieß es 
dann: Es ist hier nicht so, wie sie uns eingeredet haben. Das
 in den Videos, die wir gesehen haben, stimmt einfach nicht. 
Hier ist jeder gegen jeden, wegen allem kannst du getötet
 werden. Wir kämpfen nicht für das Richtige hier. Bruder, komm einfach nicht hierher“, schrieb ein guter Freund von Yusuf, der davor Tag und Nacht nur vom Jihad gesprochen hatte. Auch Aslan hatte Kontakt mit seinen Freunden, die bereits aus Wien nach Syrien gegangen waren. „Das ist wahrscheinlich mein letzter Atemzug, sag meinen Eltern, dass ich sie liebe“. Und dann war er – Aslan macht eine Handbewegung – tot. „Das war ein guter Freund von mir, er hat mich damals angerufen. Er stand vor der Wahl: Entweder er sprengt sich selbst und die Basis der Rebellen in 
die Luft, oder nur sich selbst.“ Er hat letzteres gewählt - er hatte erkannt, dass es nichts mehr bringen würde. Leider zu spät. „Das war doch der eine Dagestaner und sein Cousin, die haben sich gesprengt“, wirft Alen leise ein. Alen, ein Inguschete, ist der schüchterne von den dreien – er selbst war, wie 
er sagt, nicht so tief in der Szene wie seine Freunde, aber „auch bei mir sind fast alle zum IS gegangen, das, was 
die dir erzählen ist eh schon alles, was man dazu sagen kann“, sagt er. Ob irgendwer von diesen Freunden bis zum Schluss überzeugt war, dass sie dort das Richtige tun? „Nein“, sind sich alle drei sicher. „Alle haben irgendwann gemeint: Wallah, wir bereuen es abnormal, dass wir hierhergekommen sind“, erklärt Alen. „Einer hat sich retten können, indem er zurückgekommen ist und sich rausgeredet hat, dass er Rettungsfahrer war – und man hat ihm nur geglaubt, weil er blonder Österreicher ist. Alle anderen – tot“, zuckt Aslan mit den Schultern. Ich will wissen, ob ihn das gar nicht mitnimmt, so nüchtern, wie er davon erzählt. „Schau, selbst wenn das mein leiblicher Bruder gewesen wäre, könnte ich genauso emotionslos darüber sprechen. Ich kann dir nicht sagen, wie viele gestorben sind. Es war nicht einer, nicht zwei und auch nicht zehn – man gewöhnt sich dran.“

Foto: Marko Mestrovic
Foto: Marko Mestrovic


"Die schmieren dir einfach zuerst so viel Honig ums Maul, bis sie dich komplett haben."

Ende 2018 waren dem Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung 320 aus Österreich stammende Personen bekannt, die sich aktiv am Jihad in Syrien und dem Irak beteiligten oder beteiligten wollten. Davon sind laut unbestätigten Informationen 58 in der Region gestorben und getötet worden und 93 Personen wieder nach Österreich zurückgekehrt. Weitere 62 konnten an einer Ausreise gehindert werden und halten sich nach wie vor im Bundesgebiet auf, so der Verfassungsschutzbericht 2018. Im Jahr 2019 sind laut dem Bundesministerium für Inneres zwei Personen zurückgekehrt. Weitaus weniger als in den Vorjahren. Das bedeutet aber nicht, dass der „Kampf gegen den IS“ beendet ist.

Ex Jihadis Studio
Foto: Zoe Opratko

„Es gibt heute fix noch Rekrutierer“

 Aslan und Yusuf vergleichen die Ideologie des IS mit der der Nazis: Der „Hype“ sei vorbei, die Gesinnung aber lebe noch weiter. Und solange es die Ideologie gibt, wird sie auch instrumentalisiert. Es werde einfach nur auf eine Gelegenheit gewartet. Momentan sei es die Situation der Uiguren
 in China. Einen Call to Action wie damals beim Jihad gibt es nicht – „aber es wird teilweise dazu angestiftet, Menschen, die damit irgendwie in Verbindung stehen, umzubringen oder ihnen Schaden zuzufügen“, so Aslan. Es werde mobilisiert, sich gewissen Gruppierungen anzuschließen, diese jihadistische Ideologie und das Narrativ „Muslime vs. Nicht-Muslime“ sei nach wie vor vorhanden. „Die Leute wollen sich nicht dem ISIS anschließen. Sie wollen sich einfach der Ideologie anschließen“, sagt Yusuf. 

„Im Gefängnis damals war Syrien das Thema Nummer eins. Ich nehme stark an, dass es heute die Uigurensache ist. Da gibt es fix Rekrutierer. Die machen so einen auf ur guten Bruder, sie gehen zu Jugendlichen hin und haben quasi den Ansatz: Wir müssen den Uiguren helfen, schau was in China mit unseren Geschwistern passiert. Die töten dort unsere Männer und vergewaltigen unsere Frauen. Wir müssen was tun. Du wirst gebraucht.“ So war es auch damals bei Aslan, Yusuf und Alen. 

„Früher habe ich mir die ganze Zeit diese Propagandavideos vom IS reingezogen, habe den Westen verflucht, es ging 24/7 nur um das Eine“, sagt Aslan. Heute sei er viel offener, er habe viele andere Religionen, Positionen und Meinungen kennengelernt. „Ich bin auch viel höflicher geworden. Mir ist heute egal, aus welchem Land jemand kommt, oder welche Religion er hat.“ Yusuf pflichtet ihm bei: „Ich habe damals alles verflucht und war die ganze Zeit depressiv und aggressiv, habe an den Tod gedacht. Jetzt habe ich Freunde aus allen möglichen Glaubensrichtungen, habe Fuß im Leben gefasst und lebe einfach normal.“ 

Aber die Wut, die ist geblieben: Die Wut gegen Ungerechtigkeiten, der Drang, Menschen in Not zu helfen und sich für andere einzusetzen, ist bei allen noch prävalent. Nur, dass sie es heute richtig einzusetzen wissen, wie Aslan sagt: „Heute weiß ich, dass es keine Waffe braucht, um anderen Menschen zu helfen.“ Der Jihad, den die Aussteiger heute führen ist jener mit sich selbst - der Jihad un-Nafs, um ein guter Mensch zu werden. 

Anm.:  Alle Fotos wurden für die Geschichte gestellt, die Namen sind zum Schutz der jeweiligen Personen von der Redaktion geändert.

 

 

ZUM PROJEKT: Was ist Jamal al Khatib? 
 
Jamal al Khatib
Foto: Zoe Opratko
 
2016 wurde das Streetwork-Projekt „Jamal al-Khatib“ ins Leben 
gerufen. Gemeinsam mit anderen 
Aussteigern, Poiltik- und Islamwissenschaftlern, Sozialarbeitern und Filmemachern setzen sich ehemalige IS-Sympathisanten heute dafür ein, dass Jugendliche nicht dieselben Fehler wie sie begehen. Die Idee für das Projekt lieferte ein Jugendlicher, der momentan in Haft sitzt – er selbst war tief in der jihadistischen Szene und möchte seine Geschichte erzählen. Er wirkt heute noch mit und schreibt aus dem Gefängnis Briefe, die als Grundlage für einige der Videos fungieren. In den Videos, die auf Youtube ausgestrahlt werden, erzählt eine fiktive Identifikationsfi gur Jamal, wie er in Österreich in die salafistisch-jihadistische Szene abdriftet und im Gefängnis seine Entscheidungen hinterfragt. Die Videos basieren auf tatsächlichen Erlebnissen von jungen Wienern, die aus der
 Szene ausgestiegen sind. Es geht um Themen wie Gewalt, Religion und Ehre. Die Resonanz auf die Videos sei überwiegend positiv. „Wir bekommen viele Nachrichten von Jugendlichen, die uns schreiben: Wegen dieses Videos habe ich eingesehen, dass dies und jenes falsch ist.“ Genau das ist das Ziel. Wann ihre Arbeit „getan“ sein wird? Noch lange nicht. Momentan kursieren im Netz unzählige Videos von Konzentrationslagern in China, in denen Uiguren gefoltert und umgebracht werden. „Es gibt aber auch falsche Infos und Fake Videos, die im Zuge dessen verbreitet werden. Eines der viralsten Videos zeigt Bilder aus Mexiko und nicht China, da wird wieder instrumentalisiert und wir haben dasselbe Problem wieder“ erzählt einer der Sozialarbeiter. 
Die neueste Kampagne von Jamal al-Khatib heißt „#Uiguren #Wirvergesseneuchnicht!“ – hier wird auf die Situation der Uiguren in China Bezug genommen, es werden Möglichkeiten wie man Uiguren unterstützen kann aufgezeigt, es wird aufgeklärt und Bewusstsein geschaffen. Auch damit die Jugendlichen ihre Informationen nicht aus Fake Videos beziehen. „Wir möchten aber nicht, dass die Jugendlichen denken, dass die Positionen, die im Projekt gemeinsam für die Videos entwickelt werden, die einzig richtigen sind. Wir wollen mit den Videos ein Raum für Diskussionen über Themen anbieten, die für Jugendliche wichtig sind. Wir freuen uns über Kritik und möchten nicht, dass Jugendliche, die die Videos sehen, die Positionen darin übernehmen. Sie sollen ihre eigenen Positionen entwickeln."

 

„Wir bieten den Jugendlichen Perspektiven“

Rami
Foto: Marko Mestrović

Interview mit Rami Ali - Politologe, Islamwissenschaftler und Mitwirkender bei „Jamal al Khatib“ 

BIBER: Wie weit ist die IS-Ideologie heute noch in Wien verbreitet? Was ist anders im Gegensatz zu 2014?

RAMI ALI: Die Anzahl der Orte, an denen sie gepredigt wird, hat abgenommen. Weil einerseits der Call to Action fehlt und andererseits der Verfassungsschutz aufgerüstet hat. Früher hat man sich eben in einer Hinterhofmoschee oder einer Wohnung getroffen. Heute stehen diese Moscheen, falls es sie gibt, unter Beobachtung und die Leute wissen „Wenn ich da jetzt reingehe bin ich vielleicht auf dem Radar vom Verfassungsschutz“. Die Akteure wissen ganz genau, dass sie beobachtet werden. 

Haben Sie eine Einschätzung dazu, wie viele IS-Sympatisanten es 2020 in Wien gibt?

Das ist schwer zu sagen, zumal es einen Unterschied gibt zwischen jenen, die sich wirklich als Anhänger der Organisation „IS“ sehen und jenen, die mit Versatzstücken der IS-Ideologie sympathisieren. Etwa 330 Menschen sind damals insgesamt aus Österreich nach Syrien gegangen. Einige von ihnen sind jetzt zurückgekehrt und berichten zum Teil über die falschen Versprechen, die ihnen gemacht wurden. Was man mit Gewissheit sagen kann: Der „Hype“ rund um den sogenannten IS ist jetzt abgeflacht. Das liegt nicht nur am Territoriumsverlust des sog. Islamischen Staats. Die geballte Brutalität, die er so zur Schau gestellt hat, ist für die meisten Leute einfach nicht mehr attraktiv und schreckt ab. Es spricht sicher noch eine sehr gewaltaffine Gruppe, die noch sehr tief indoktriniert ist, an. Die breite Masse erreichst du damit jetzt nicht mehr. 

Was bewirken Projekte wie „Jamal Al Khatib“? 

Erstens können sich die Jugendlichen, die an dem Projekt partizipieren, mit den Inhalten identifizieren. Wir bringen sie in fast alle Entscheidungen mit ein, bieten ihnen Perspektiven. Wenn sie nicht mehr dieses Ohnmachtsgefühl haben und dieses Ungerechtigkeitsempfinden positiv einzusetzen wissen, macht das was mit den Jugendlichen. „Jamal al-Khatib“ ist auch ein Diskursraum. Das sehen wir auch an den Interaktionen
und dem Feedback auf unseren Social Media Kanälen. Zudem stellen wir immer wieder fest, dass sich viele Leute damit identifizieren, das ist sogar wissenschaftlich nachgewiesen und evaluiert. Es gibt eine externe Begleitforschung seitens der FH St Pölten. Die zweite Staffel des Videoprojekts wurde von der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb gefördert. 

 

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