Die Angst, etwas zu verpassen

25. Oktober 2016

 

Er atmet ganz ruhig, vielleicht schläft er schon. Wahrscheinlich ist er müde, so wie viele Männer danach. Ich habe mein Bein um ihn geschlungen, meine Hand fährt über seine Brust. Sein warmer Körper bewegt sich ruhig unter meinem Arm. Ich fahre mit meinem Gesicht über seinen Hals und tauche meine Nase in seinen Bart. Der Geruch ist mir fremd.

Frei sein
Foto: Unsplash

Seit mittlerweile sechs Monaten bin ich wieder Single. Ich wollte die Beziehung weiterführen, doch ich wollte auch frei sein. Jetzt frage ich mich, ob sich das alles gelohnt hat. Ich liege in meinem Bett mit einem unbekannten Mann. Er ist riesig, nimmt viel Platz ein und ist mir nicht vertraut. Sein Bart riecht nach einer skurrilen Mischung seines Abendessens, Bier und kaltem Zigarettenrauch. Und doch genieße ich den Augenblick. Ich möchte nicht alleine sein, obwohl ich es auch könnte.

Während der Beziehung was verpassen

Meine Beziehung dauerte knapp vier Jahre.  In der Zeit veränderte sich viel. Die Gläser der rosaroten Brille verblassen, man erkennt nun die Macken des Partners. Und der aufregende Sex vom Anfang  ist auch schon Routine. Dann fängt man zum Grübeln an. „Ist er der Richtige für mich? Ist das also der Mann meines restlichen Lebens?“ Plötzlich erscheint das Luftschloss, das man sich aufgebaut hat so fragil, die Seifenblase droht zu platzen.

An irgendeinem Punkt etablierte sich der Freiheitsgedanke, der immer stärker in meinem Kopf zu wachsen begann.  „Jetzt bin ich jung. Jetzt kann ich mich ausleben, Dinge erleben, andere Männer ausprobieren, mich selbst erfahren.“ Ich spürte, dass ich die Beziehung nicht weiterführen konnte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis wir uns trennten. Ich erklärte ihm, dass ich noch nie einen Menschen so sehr geliebt hatte. Doch gleichzeitig hatte ich das starke Gefühl, dass ich während der Beziehung so viel verpassen würde.

Das bisschen Freiheit

Ich fing an, auf die Nachrichten von Männern zu antworten, auf Dates zu gehen. Ich erwiderte die Flirtversuche beim Weggehen. Ich verreiste wieder alleine. Auf Reisen war es praktisch unmöglich, keine Leute kennenzulernen. Ich fühlte mich stark und unabhängig. Die Freiheit fühlt sich gut an auf meiner Haut, prickelnde Erlebnisse und süße Momente. Ich war wieder Single und spürte mich so stark wie seit langem nicht mehr.

Jetzt, sechs Monate nach der Trennung habe ich erreicht, was ich wollte. Ich erlebte genau das, was ich während der Beziehung so vermisst hatte. Ich hatte endlich nicht mehr das Gefühl, irgendetwas zu verpassen. Ich hatte das Gefühl, wieder mittendrin zu sein. Das Gefühl hielt sich einige Monate, bevor auch dieses begann, nachzulassen.

Single- und nun?

Ich liege in meinem Bett, und beginne wieder, mir Gedanken zu machen. Meine Freiheit war teuer. In Momenten wie jetzt wird mir klar, wie viel ich aufgegeben hatte für das bisschen Freiheit. Neben mir liegt nun der Mann, den ich nicht kenne. Früher lag da noch mein engster Vertrauter und bester Freund. Doch ich wollte Veränderung und die habe ich auch bekommen. Ob ich deswegen glücklicher bin, kann ich nicht einfach so sagen.

Doch ich bin mir noch immer sicher, dass eine Trennung die richtige Entscheidung war. Für uns beide ist eine neue Zeit angebrochen. Wir haben uns beide weiterentwickelt und die Dinge bekommen, die wir so unbedingt wollten. Beizeiten verspüre ich allerdings ein fast unauffälliges Zwicken im Bauch, das mich an der Entscheidung zweifeln lässt. So wie jetzt, als ich den Bart des fremden Mannes rieche.

 

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