Die Erstgeborene - Die Wahrheit hinter dem Vorbild
Ehrgeizig. Verantwortungsbewusst. Verständnisvoll. Leistungsstark. Aber auch nachgiebig. Wie die Tatsache, die älteste Tochter in einer georgischen Familie zu sein, die Persönlichkeit unserer Autorin Tekla Scharwaschidze geprägt hat. Und wie sie die Erwartungshaltung durchbrach.
Von Tekla Scharwaschidze, Foto: Zoe Opratko
Ich wurde in Georgien geboren. Damals war ich nicht nur die Erstgeborene, sondern auch das allererste Enkelkind in meiner Familie. Während meiner Geburt versammelte sich eine große Gruppe an Verwandten und Bekannten vor dem Krankenhaus und sangen meiner Mutter, vor dem offenen Fenster ihres Zimmers, georgische Volkslieder zu. Es war eine warme Herbstnacht und der Mond schien hell am Himmel. Ich erinnere mich natürlich nicht an das Ereignis, aber wir haben eine alte Kassettenaufnahme, die schon unzählige Male abgespielt wurde.
Rebellin oder People-Pleaser
Das Leben der Erstgeborenen in Georgien ist von großer Erwartungshaltung und starkem Verantwortungsbewusstsein geprägt. Das hat sich bei unserer Emigration nach Österreich auch nicht geändert. Ich würde sogar meinen, dass sich die Ansprüche und Erwartungen meiner Eltern gegenüber mir nochmals um eine Spur verstärkt hätten. Und dass diese Erwartungshaltung gegenüber meiner vier Jahre jüngeren Schwester ganz anders aussieht, ist lange kein Geheimnis mehr. Als Älteste lernt man nämlich früh genug, Dinge so hinzunehmen, wie sie sind. Nachgiebigkeit ist also eine der vielen Eigenschaften, die ich meinem Charakter als Erstgeborene relativ schnell zuschreiben kann. Erstaunlicherweise gibt es sogar eine Geburtsordnungstheorie, die besagt, dass die Persönlichkeit von der Geburtsordnung der Kinder beeinflusst wird. Sobald das zweite Geschwisterkind die Szene betritt, herrschen zwei Optionen: Rebellion oder Nachgiebigkeit. In anderen Worten, entwickelt sich das erstgeborene Kind entweder zu einer willensstarken Person, oder zum fügsamen „People-Pleaser“.
Ich habe schon sehr früh begriffen, dass ich in die zweite Kategorie falle. Ich versuche Konflikte, besonders mit meinen Eltern, zu vermeiden, mich in die Lage von anderen hinzuversetzten und ihre Ansicht möglichst schnell zu verstehen. Mit meiner Mutter pflege ich ein sehr gutes Verhältnis und sie zählt auf mich. Ich würde es zwar nie vor meinen Eltern zugeben, aber ich bin mir bewusst, dass ich auch nicht geäußerte Erwartungen ihrerseits stets aufgreife. Auch wenn sie nicht immer von Erfolg ausgehen, strebe ich danach, für sie erfolgreich zu sein. Ich strebe danach, sie stolz zu machen und von Nutzen zu sein. Unterbewusst bedeutet das, dass ich Entscheidungen selten nach dem eigenen Willen treffe, sondern lieber im Namen derer, die ich ungern enttäuschen möchte. Diese unterbewusste Angst vor Enttäuschung verankert sich schnell und kann zukünftige Lebensabschnitte stark beeinflussen.
Mehr Leistung bringen, besonders als Migrantin
In der Schule pflegte ich auch gute Verhältnisse zu allen Lehrer*innen und war relativ beliebt. Wie die meisten ältesten Kinder aus befreundeten Familien, erbrachte ich stets außerordentliche Leistungen. Ich war sogar eine der besten in meinem Jahrgang. Außerdem verspürte ich nie eine Zurückhaltung, stellte meine Leistungen zur Schau und wollte mein Wissen immer erweitern. Ich machte bei Wettbewerben und Programmen mit, um Erfolge zu sammeln, die ich präsentieren konnte. Heute weiß ich, dass das vermutlich am starken Leistungsdruck und an den unzähligen Lektionen meiner Eltern liegt, die predigten, dass ich mich stets unter Beweis stellen müsste. Und das nicht nur als Erstgeborene, sondern auch als Migrantin. Als Kind begriff ich natürlich nicht, wie toxisch ein solches Verhalten und wie gefährlich dieser psychischer Druck sein kann. Es kam mir nämlich so vor, als ob die Hoffnung und die Ehre der ganzen Familie einzig und allein auf meinen Schultern lasten würden. Ich redete mir sogar ein, dass ich mir keinerlei Fehler erlauben dürfte. Deshalb strengte ich mich stets an, die erwarteten Leistungen zu liefern und meine Eltern nicht zu enttäuschen. Ab und zu nahm dieser Ehrgeiz dann auch die Rolle des unterdrückenden Begleiters an und ich schnitt nicht so gut ab, wie erwartet.
Auf dem Serviertablett
Ich erinnere mich an meinen ersten Dreier in Mathe, der dazu führte, dass mein Vater einige Tage nicht mit mir sprach. Im Laufe der Zeit wurden die Reaktionen auf meine Noten weniger schlimm, aber meine Angst davor, schlecht abzuschneiden legte sich nie. Ich erinnere mich auch an Telefonate meiner Mutter mit Bekannten, die sich schnell zu einem höflichen Konkurrenzkampf zwischen den Familien entwickelten. Der Vergleich von ausgezeichneten Zeugnissen war das eine, aber manchmal wurden sogar schlechte Noten als wohlverdiente Einser verkauft. Die Erstgeborenen werden von den Eltern wie auf einem Serviertablett vorgeführt. Mit dem ältesten Sohn einer gut befreundeten Familie hatte ich einmal ein lustiges Gespräch darüber, dass unsere Mütter über die eine oder andere Note gelogen hatten. Ich war also in dieser Situation nicht alleine.
Diese und andere Erlebnisse führten zur Erkenntnis, dass nicht alles so seriös verhandelt wird, wie es einem scheint, und man viele Erfahrungen mit anderen teilen kann. Je älter man wird, desto mehr merkt man, dass sowohl Eltern als auch besonders ihre Weltanschauung nicht immer perfekt sind und man auch selbstständige Entscheidungen treffen darf. Nach dem Willen anderer zu leben, kann nämlich früher oder später in Unzufriedenheit enden.
Der Angst vor dem Versagen den Rücken kehren
Nach meinem Schulabschluss begann ich darüber zu reflektieren, wie stark mein Leben von Abhängigkeiten geprägt ist und wie ich das ändern könnte. Empowerment bedeutete für mich, offen mit meinen Eltern darüber zu sprechen, was der Leistungsdruck wirklich mit mir gemacht hatte und macht. Ich entschied mich, der Angst vor dem Versagen entgegenzuwirken und diesen Ängsten nicht mehr die Möglichkeit zu geben, mein Leben zu beschränken. Als Erwachsene traute ich mich endlich, eigene Meilensteine zu setzen und mich daran zu machen, die Erwartungshaltung zu durchbrechen. Ich entschied mich trotz der Sorgen meiner Eltern, ein Auslandssemester zu machen, um ihnen zu zu zeigen, dass sie nicht immer auf mich angewiesen sein müssen. Und am wichtigsten war dabei doch, dass ich mir selbst dadurch beweisen wollte, dass ich selbstständig handeln und bewusst aus meinen Komfortzonen heraustreten kann. Ich hinterfrage ihre Ansichten und trete skeptisch auf. Ich ließ die Verantwortung für meine Schwester nicht mehr so leicht an mir hängen.
Als Erstgeborene will ich mich nun der Aufgabe widmen, das Generationstrauma zu durchbrechen und den Jüngeren in der Familie nicht in einer Vorbildfunktion gegenüberzustehen, sondern als offener und unvoreingenommener Mensch. Meine Selbstbestimmung soll meiner Schwester das Gefühl geben, dass allein ihre Noten und Erfolge nichts über sie aussagen. Ich will, dass sie weiß, dass ich sie trotz jeglicher Entscheidungen und Handlungen bedingungslos lieben werde. Ich will, dass meinen Eltern bewusst wird, dass ihr Leben nicht allein von ihren Kindern abhängt und sie darauf vertrauen sollen, dass am Ende alles gut wird. Egal welchen Weg man einschlägt. Und ich will meine persönliche Zufriedenheit bewusst über die Erwartungen anderer stellen, um mir mein eigenes Bild zu schaffen: von mir – von der Welt – und von dem Weg, den ich in ihr gehen will. ●
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