„Die Taliban hatten nie einen Stift in der Hand, sondern nur Kalaschnikows.“

14. April 2022

Als Zehnjährige nahm sie die Identität ihres toten Bruders an, um als Mann verdeckt für ihre Familie zu sorgen. Frauen durften im islamistischen Regime der Taliban nämlich nicht arbeiten gehen. Ganze zehn Jahre lebte Nadia Ghulam dieses Doppelleben unter dem Turban, bis ihr die Flucht nach Spanien gelang.

Interview: Nada El-Azar-Chekh, Fotos: Mafalda Rakoš

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Nadia Ghulam. Foto: Mafalda Rakoš

BIBER: Die ganze Welt sah im vergangenen Jahr, wie die Taliban wieder an die Macht in Afghanistan kamen. War das zu erwarten?

Nadia Ghulam: Nein, das war ein großer Schock und ich habe das nicht kommen gesehen. Als es hieß, dass die Amerikaner mit den Taliban über den Frieden weiter verhandeln würden, habe ich kein Wort davon geglaubt. Die Taliban wissen nämlich nicht, was Frieden bedeutet. Mir kamen die Verhandlungen wie ein Spiel vor, das auf Kosten der Zivilgesellschaft in Afghanistan geführt wurde. Die mächtigsten Menschen unseres Landes befanden sich zu dieser Zeit längst in Doha oder Dubai und lebten ihr schönes Leben mit ihren Familien und Kindern weiter. Aber die Taliban waren nicht das einzige Problem in Afghanistan, sondern alle Kriegsführer und die korrupten Politiker machten allen das Leben schwer. Vor dem ersten Talibanregime in den 1990er Jahren tobte in Afghanistan ein Bürgerkrieg. Die Söldner aus diesem Bürgerkrieg saßen unter amerikanischer Besatzung dann auch im afghanischen Parlament, als ob sie normale Politiker wären. Und dieselben zeigten auf die neuen Talibanherrscher und nannten sie Verbrecher. Alle Kriege entstehen aus den Entscheidungen mächtiger Menschen, deren Kinder und Ehefrauen niemals dasselbe durchmachen müssen, wie die Zivilbevölkerung.

Woher hast du die Kraft genommen, dich als deinen toten Bruder auszugeben?

Ich habe diese Entscheidung nicht wirklich bewusst getroffen, denn ich war ja erst 10 Jahre alt. Damals wusste ich nur, dass ich Essen für mich und meine Familie brauchte. Tagtäglich dachte ich mir, dass ich morgen einfach wieder Nadia sein könne – letztlich lebte ich aber 10 Jahre lang als Zelmai, mein toter Bruder. Ich war ja nur ein Kind, woher hätte ich das Risiko einschätzen können?

 

Was bedeutete es damals für dich, ein Junge zu sein?

Mein Vorbild war natürlich mein Bruder Zelmai – er war der einzige Junge, mit dem ich engen Kontakt hatte, und war fünf Jahre älter als ich. Als ich unter seinem Namen lebte, dachte ich ständig darüber nach, wie er sich in bestimmten Situationen verhalten würde, und habe das umgesetzt. In Wahrheit hatten wir aber eine sehr verschiedene Persönlichkeit, aber die Not hat mich kreativ gemacht, damit ich und meine Familie überleben konnten.

 

Welche Tricks hast du dir angeeignet, um nicht aufzufliegen?

Ich wurde zu einem Flüchtling in meinem eigenen Land und zog sehr oft um, damit niemand Verdacht schöpfte. Lange Zeit erklärte ich, dass ich einfach jünger als die anderen wäre und deshalb keinen Bart bekomme. Auch die Brandnarben, die ich von dem Bombenangriff davontrug, dienten dabei als gute Ausrede. Mein Gesicht und mein ganzer Hals waren verbrannt. So erklärte ich auch, warum meine Stimme anders ist. Wie durch ein Wunder bin ich niemals aufgeflogen, obwohl ich oftmals dachte: Warum sieht mich der Mann dort so schief an, er weiß sicherlich Bescheid.

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"Die Taliban kennen den Wert von Bildung nicht." Foto: Mafalda Rakoš

Wie waren die Taliban eigentlich privat? Worüber unterhielten sich die Männer untereinander?

Natürlich drehten sich viele Gespräche um Frauen. Darüber, wie sie unsere Schwestern und Mütter beschützen würden, wie wir eine Ehefrau finden, und wir sprachen über Frauenkörper. Im Grunde wurden also sehr „maskuline“ Gespräche geführt. Natürlich musste ich auch mitreden. Unter meinem Turban war ich aber selbst eine Frau und mir waren solche Gespräche sehr unangenehm. Meine Strategie war es dann, zu sagen, dass ich zu religiös bin, um so über Frauen zu sprechen. Die Taliban sahen mich also stets sehr fromm, beim Beten und Koran lesen, und haben mich damit in Ruhe gelassen.

 

Wie hast du es mit 20 Jahren – also nach zehn Jahren unter den Taliban – aus Afghanistan hinausgeschafft?

Dank einer NGO gelang mir die Flucht nach Spanien. Man gewährte mir die Ausreise mit dem Vorwand, dass ich medizinische Hilfe benötige. Ich war ja acht Jahre alt, als die Bombe in unser Haus einschlug, und ich habe große Verbrennungen davongetragen. Die verbrannte Haut wuchs nicht mehr richtig mit mir mit. Deswegen brauchte ich eine spezielle Behandlung, die ich in Spanien bekam. Mein großes Glück war aber nicht die Ausreise, sondern die Familie, die mich in Barcelona aufnahm und wie eine eigene Tochter behandelte. Für sie zählte nie meine Hautfarbe oder meine Religion oder meine Muttersprache.

 

Gab es in Europa einen Kulturschock? Schließlich durftest du endlich offen als Frau leben. War das schwer?

In Afghanistan konnte ich nicht als Frau leben und trug deshalb lange Zeit einen Turban. In Spanien sagte ich dann meiner katalanischen Ziehmutter, dass ich das Kopftuch tragen will, da ich eine Frau und Muslima bin. Sie gab mir ihre bunten Schals zu tragen, ohne mir Druck oder Vorwürfe zu machen. Nach ein paar Monaten sagte ich ihr, dass ich nun doch nicht mehr einen Hijab tragen will, sondern einen Hut. Sie kaufte mir daraufhin Hüte, und ich trug sie in der Öffentlichkeit etwa zwei Jahre lang. Schlussendlich sagte ich ihr, dass ich wie sie hinausgehen will. Also nahm sie mich zum Frisör mit und unterstützte auch diesen Wunsch. Diese Einstellung hat mir persönlich sehr geholfen, in Europa anzukommen, und viele Menschen verstehen es leider bis heute nicht, dass man nicht gegen die Überzeugungen von anderen Menschen, die sich hier ein neues Leben aufbauen wollen, kämpfen sollte. Freiheit bedeutet nicht, Menschen Druck zu machen, sich auf Zwang ändern zu müssen. Alles braucht Zeit, so war es auch bei mir.

 

Hast du schlussendlich gut zu deiner eigenen Weiblichkeit finden können?

Ich mag es immer noch nicht, mich zu schminken oder Röcke zu tragen. Dagegen habe ich mich auch immer gewehrt, seit ich in Barcelona wohne. Manchmal lasse ich aber meine Freundinnen mir die Augenbrauen machen oder mich schminken, einfach, weil sie Freude damit haben. Persönlich mag ich es lieber natürlich.

Seit der Machtübernahme 2021 hat sich die Situation in Afghanistan besonders für Frauen verschlechtert. Die neue Regierung gibt sich dennoch moderat und verspricht unter anderem, dass Frauen ein Zugang zur Universität ermöglicht wird. Kann man dieser neuen Offenheit Glauben schenken?

Nein. In meiner Heimat gibt es eine Redewendung: Den wahren Wert eines Schmuckstücks kennt nur derjenige, der mit Schmuckstücken arbeitet. Die Taliban hatten noch nie einen Stift in der Hand, sondern nur Kalaschnikows, sozusagen. Den wahren Wert von Bildung kennen sie also nicht, und sie kümmern sich nicht darum, wie wertvoll Wissen ist. Genauso verhält es sich mit der Freiheit. Ich sehe diese moderate Politik mehr als Farce.

 

Wie empfindest du, wenn du die aktuellen Bilder aus der Ukraine siehst?

Alles, was Kriege betrifft, wühlt in mir sehr viele Gefühle und Traumata auf – denn ich habe selbst Krieg erlebt. Die Nachrichten über die Millionen Flüchtlinge und die zerstörten Häuser in der Ukraine lösen viel Schmerz in mir aus und erinnern mich an mein eigenes Leid. Tatsächlich bin ich wegen der aktuellen Situation wieder in therapeutischer Behandlung und viele Menschen, die Ähnliches wie ich erlebt haben, haben es ebenso schwer. Wenn ich Feuerwerk höre, kann ich den Krieg sehen. Das hat sich nie geändert.

 

Im Jahr 2010 hast du deine Autobiographie „Das Geheimnis meines Turbans“ erstmals auf Spanisch veröffentlicht. Welche Rolle spielte das Buch für die Bewältigung deiner Vergangenheit?

Meine Geschichte war von Journalisten aufgegriffen worden, lang bevor ich „Das Geheimnis meines Turbans“ schrieb. Ich wollte selber meine Geschichte erzählen und nicht die Frau sein, „die sich 10 Jahre lang als Junge verkleidete“, so wie es in vielen Artikeln geschrieben wurde. Mittlerweile habe ich schon vier Bücher veröffentlicht und ich erlebe mit jedem Buch, jedem Talk und jedem Interview mein Schicksal aufs Neue. Das ist zwar schmerzhaft, aber wenigstens habe ich mein Leben selbst in der Hand.

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