Ich bin diplomierter Flüchtling mit Auszeichnung von der Balkanroute-Universität.

17. März 2021

Lieber Verstand der Menschheit, dürfte ich Sie kurz entführen und auf einen Kaffee auf dem Mond weit weg von dem Lärm der ringenden Egos einladen?

Ich bin ein geradliniger Gesprächspartner, der kein Interesse an vorgetäuschten Höflichkeiten hat. Lassen Sie unsere Kaffeepause hemmungslos und übergangslos ablaufen. Ich möchte Ihre Betrachtung bestimmter Dinge neu verhandeln.

Exil ist nicht, wenn Sie in der Fremde leben. Exil ist, wenn Sie sich in der eigenen Heimat fremd fühlen. Exil ist, wenn Sie als Kind jeden Tag in der Schule für den Diktator, der Ihre Zukunft stiehlt, rufen müssen: “Es lebe der ewige Führer”.

 

ICH MACHE DEN MASTER AN DER HOCHSCHULE DER FREMDE

Diaspora ist nicht die Verstreuung eines ganzen Volkes vor den Toren der Ungewissheit, hoffend, dass die Raupe ein Schmetterling werden kann, ohne ihre Flügel mit der Schere der Herabwürdigung zu beschneiden Diaspora ist, wenn Sie in der Blüte ihres Lebens wegen eines Rufes nach Freiheit gefangengenommen werden, mit jedem Schlag Ihrer Peiniger ein Stück von Ihrem Menschsein verlieren, und während des Folterns laut rufen müssen: “Es lebe der ewige Führer.”

Lieber Verstand der Menschheit, Sie runzeln die Stirn, als schmecke Ihnen der Kaffee nicht! Und bitte blicken Sie nicht besorgt auf die Erde, sie werden Ihre Abwesenheit nicht merken. Oder sind Sie überrascht, weil sie doch eine Kugel ist?

Lieber Verstand der Menschheit, ich möchte auch, dass mein Studienabschluss anerkannt wird. Ich bin diplomierter Flüchtling mit Auszeichnung von der Balkanroute-Universität. Ich machte dann den Master an der Hochschule der Fremde. Dort lernte ich, dass es keine Fremde gibt. Es gibt nur fehlendes Interesse, den Anderen kennenzulernen.

 

ICH TRAGE DIE PERSPEKTIVE DREIER MENSCHEN IN MIR

Kann ich künftig meine Flucht- und Fremdsein-Kompetenzen in meinen Lebenslauf einfügen und darauf hoffen, höheres Gehalt dadurch zu bekommen? Ich werde an meinem ersten Arbeitstag meine Zertifikate stolz im neuen Büro aufhängen und die Bewunderungsblicke genießen. Ich habe immerhin für dieses Studium viel bezahlt. Es hat mich den Verzicht auf die Umarmungen meiner Mutter gekostet.

Lieber Verstand der Menschheit, es wäre nur gerecht, mein Fluchtstudium und meine Migrationskompetenzen anzuerkennen. Denn ich trage die Perspektive dreier Menschen in mir. Eine des Einheimischen, eine des Fremden und eine desjenigen, der die beiden in mir beobachtet.

Lieber Verstand der Menschheit, wohin gehen Sie, warten Sie...

C‘est la vie. Ich bin es gewohnt, die Rechnung alleine zu bezahlen...

 

Über den Autor: Jad Turjman ist Comedian, Buch-Autor und Flüchtling aus Syrien. In seiner Kolumne schreibt er über sein Leben in Österreich. In dieser Ausgabe in Form eines Gedichtes.

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