"Ich foltere dich bis du tot bist"

08. April 2016

Die meisten Syrer fliehen vor dem Krieg - die transsexuelle Rawan vor ihrer eigenen Familie. Eine Geschichte über Folter, Ehrenmord und das Gefühl endlich eine Frau sein zu können.

Von Emir Dizdarevic

Rawan
Marko Mestrovic

Das erste Mal begegne ich Rawan auf der Tanzfläche in der Rosa-Lila Villa in Wien, ein Treffpunkt für die LGBT-Community. Neben ihr scheinen alle anderen Menschen wie vergessen: Sie ist die größte Person in der Gruppe, grölt am lautesten zu den Liedern und überhaupt scheint sie in ihrem weißen Oberteil zu leuchten. Trotz der hohen Absätze ist in ihrer Bewegung keine Spur von Zurückhaltung. Sie wackelt mit dem Hintern, schwingt ihre Hüften, wirft die Arme in die Luft und fährt sich mit den Händen durch die Haare und über ihren Körper. Mit jeder ihrer Bewegungen scheint sie das Leben, den Raum, die Menschen darin und sich selbst zu umarmen.

Rawan ist 21 Jahre alt und eine Transsexuelle. Bis zu ihrem 18. Lebensjahr hatte die junge Muslimin in ihrem Geburtsort in Syrien als Verkäufer in einem Kleidungsgeschäft gearbeitet. Als Mann versteht sich. Vor acht Monaten gelang der jungen Syrerin die Flucht nach Österreich. Arbeiten darf die junge Trans-Person noch nicht und auch Deutsch spricht sie noch keines. Dennoch, in Österreich fühlt sie sich das erste Mal seit langem wieder frei.

Rawan
Marko Mestrovic

Ab ins Gefängnis

Der Weg zur Freiheit war allerdings lang. Erst im Kleidungsgeschäft merkt sie, dass sie nicht die einzige Transsexuelle Syriens ist. Ein Mitarbeiter outet sich vor ihr als Trans-Person und führt Rawan in ein neues Leben. Er nimmt sie mit auf Besuch nach Damaskus, wo die junge Syrerin noch viele wie sich treffen sollte. Weit weg von der Familie fühlt sie sich zum ersten Mal wirklich frei. Ein Irrglaube, wie sich herausstellt. Während einer Wohnungsparty in Damaskus läutet die Polizei an der Tür. Nachbarn hatten sich über den Lärm beschwert. Die Polizei sollte eine Gruppe von 23 Personen vorfinden: Schwule, Lesben und Transsexuelle. Grund genug, um sie alle ins Gefängnis zu stecken. Während der nächsten 18 Tagen in Haft wird Rawan von der Polizei bespuckt, beschimpf und geschlagen.

Rawan
Marko Mestrovic

„Die Hand, die Schwänze gehalten hat.“

Zuhause kehrt keine Ruhe ein. Der älteste Sohn der Familie bekommt ein Foto von Rawan in Frauenkleidung in die Hände - leugnen ist zwecklos. Ihre Tattoos sind klar auf dem Foto zu erkennen. Der Bruder fesselt Rawan an einen Stuhl und beginnt seine brennende Zigarette auf ihrer rechten Hand und ihrem Arm auszudrücken. „Das ist die Hand, die brennen muss. Die, die Schwänze gehalten hat.“ Versucht Rawan heute die Brandwunden nachzuzählen, gibt sie auf. Es sind einfach zu viele.

Nach der Zigarette greift der Bruder zur Rasierklinge. „Du bringst Schande über uns. Ich foltere dich bis du tot bist“, sagte der Bruder wie ein Mantra auf. „Er war gnadenlos“, erinnert sich Rawan. Das Foltern scheint ihn zu faszinieren. Tiefe, feine, aber auch lange und breite Narben finden sich heute auf Rawans rechter Schulter, rechtem Unterarm und linkem Oberschenkel. „Es war so, als ob er auf meiner Haut zeichnen würde.“

Rawan
Marko Mestrovic

Ehrenmord durch Familie

Nach einigen Stunden wird Rawan blutüberströmt im Zimmer zurückgelassen. „Wir reden morgen.“ Draußen hört Rawan den Bruder mit dem Vater reden. Sie soll getötet, in einen Müllsack gestopft und die Leiche in den Fluss Sad Al-Basel geschmissen werden. Für Rawan nichts Unbekanntes: Schon einige ihrer Bekannten waren Opfer von Ehrenmorden geworden.

Mit der Hilfe der Schwester gelingt es Rawan zu fliehen. Als der Rest der Familie das Haus verlassen hatte, löst ihre Schwester ihre Fesseln, verbindet die Wunden, gibt Rawan all ihr Geld und verabschiedet sich mit den Worten: „Du bleibst mein Bruder.“

Die Flucht beginnt

Für Rawan begann die Flucht. Ihre erste Station war die Stadt Erbil im Irak. In der kurdischen Hauptstadt begegnet sie ihrer ersten Liebe, die sie bis heute begleitet. Als seine Familie von ihrer Beziehung erfuhr, verließen sie die Stadt. Die beiden wollten in Freiheit leben. Sie wollten nach Europa.

Ihr Freund verkaufte sein Auto und das Paar kam mit dem Bus bis nach Istanbul. In der Türkei fanden sie einen Schlepper, der anbot sie nach Österreich zu bringen. Die Freiheit war zum Greifen nah und kostete 14.000 Euro. Ein Preis, den sie bereit waren zu zahlen.

Rawan
Marko Mestrovic

Endlich ein Zuhause

In Österreich kann Rawan seit langem mal wieder aufatmen. „Ich bin wie neugeboren“, sagt sie. Das Verstecken und die Angst vor der Familie hat ein Ende. In der europäischen Großstadt fühlt sie sich sicher.

In Wien muss sie auch nicht mehr vor sich selbst fliehen. Sie entscheidet nach eigener Lust und Laune, wann sie als Frau durch die Straßen geht. „Ich lasse mir von niemandem mehr was sagen.“ Diese Woche beginnt ihre Hormontherapie. Sie möchte endlich ganz als Frau leben und sich auch in ihrem Körper zuhause fühlen.

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