"Ich habe mich nachts einfach rausgeschlichen."

08. Juni 2020

Es gibt kaum eine lustfeindlichere Zeit, als die einer weltweit grassierenden Pandemie. Wie verändert sich unser Dating-Verhalten durch Corona? Eine Untersuchung – mit einer Armlänge Abstand.

Von Nada El-Azar, Illustrationen: Linda Steiner


Lars* hatte sein erstes Tinder-Date mit Anna* am Sonntag, den 15. März. Das war der letzte Tag, bevor der Lockdown in Österreich begann. „Die baldige Ausgangssperre war uns beiden klar und das lag bei unserem Treffen auf jeden Fall in der Luft“, erzählt der 26-jährige Student. Die beiden machten wegen des schönen Wetters eine ausgedehnte Fahrradtour auf die Donauinsel, weit weg von größeren Menschenansammlungen. „Ich habe schon eine gewisse Aufregung gespürt, insbesondere in den nächsten Tagen, in denen wir uns weiter getroffen haben.“ Der Reiz des heimlichen, wenn nicht auch ein bisschen verbotenen Treffens beflügelte ihre junge Bekanntschaft. Obwohl Lars und Anna sich erst kennenlernten, blieb sie gleich mehrere Tage bei ihm in seiner WG. „Normalerweise würde ich die Dinge niemals so überstürzen, aber die Corona-Sache brachte uns dazu, uns direkter für uns zu entscheiden“, erzählt er. In seiner WG einigten sich alle Mitbewohner auf eine „Ausnahme“, was Besuch betraf. „Und ich hatte noch nie so ausgedehnten und intensiven Sex wiein der Quarantäne – oft über mehrere Stunden. Wir brauchten gar kein Netflix, wir haben uns mit uns beschäftigt. Das war etwas ganz Neues.“

Corona als „Beziehungskatalysator“

Ganz ähnlich ging es auch dem knapp 40-jährigen John*. Der Engländer lebte bis vor Kurzem viele Jahre polyamor. Das bedeutet, dass er intime Beziehungen zu mehreren Frauen hatte, die auch voneinander wussten. „Viele Leute denken, dass Polyamorie eine Ausrede dafür ist, von Bett zu Bett springen zu können. Aber das ist nicht aufrichtig“, erklärt er. Für ihn gab es das oberste Prinzip: Er wollte niemals mit einer Partnerin wohnen. Selten übernachteten sogar seine Freundinnen bei ihm. „Ich lebe gerne allein und plane nicht, das in nächster Zukunft zu ändern.“ Das war, bevor er Nadine* über eine Anzeige im Internet kennenlernte. Binnen Wochen warf John all seine anderen Beziehungen über einen Haufen und beschloss, monogam mit Nadine zu werden. Ihre große Phase der Verliebtheit wurde durch die Quarantäne unterbrochen, wo sie sich zunächst nicht trafen. „Anfangs experimentierten wir viel mit Cybersex auf Skype, was zunächst umwerfend war. Aber irgendwann hat das nicht mehr gereicht. Jetzt wohnt Nadine vorübergehend bei mir, arbeitet halbtags am Computer und es funktioniert sogar erstaunlich gut.“ Sowohl für Lars, als auch John wurde die Corona-Krise zu einer Art Beziehungskatalysator, der schneller eine intime Nähe geschaffen hat, als sie es von früher kannten. „Manchmal hatte ich das Gefühl, da draußen geht die Welt unter, während ich mit ihr im Bett war. Es war wie ein Druck, der uns enger aneinanderpresste“, erinnert sich Lars. Dieser Druck verschwand jedoch genauso schnell wie er gekommen war, als Anna zurück nach Deutschland zu ihren Eltern fuhr. „Sie isolierte sich ganz korrekt zwei Wochen lang in einem Zelt im Garten, um ihre Eltern nicht zu gefährden, die im Krankenhaus arbeiten.“ Lars wurde klar, dass die Quarantäne einen größeren Einfluss auf seine Gefühle hatte als gedacht. „Wir telefonieren ab und zu, aber die Intensität ist definitiv in dieser Zeit abgeflaut“, so Lars. Er chattete weiter auf Tinder, um sich abzulenken. Viele Frauen schrieben in ihre Beschreibungen, dass sie sich derzeit nicht treffen würden, aber Skypen möglich wäre. „Ich weiß nicht, wie es mit Anna wird, wenn sie zurückkommt. Aber ich genieße sowieso, dass ich so viel Zeit für mich habe.“

Liebe in Zeiten von Corona
Illustration: Linda Steiner

Uni als Alibi

Für Zeynep* brachte die Corona-Zeit hingegen keine romantischen Durchbrüche. Die 22-jährige Studentin mit türkischen Wurzeln wohnt bei ihren Eltern, die eher konservativ ticken. „Für meine Eltern kommt ein Freund nicht in Frage, was es mir in meiner Schulzeit schon sehr schwer machte, jemanden ernsthaft kennenzulernen und auf Dates zu gehen.“ Die Universität war für sie das ultimative Alibi, den ganzen Tag außer Haus zu sein, ohne störende Anrufe besorgter Eltern. „Wenn ich um 18 Uhr noch in ein Café gehen möchte, löst das oft eine endlose Diskussion zuhause aus. Wenn ich hingegen sage, ich würde noch in die Bibliothek oder in ein Seminar gehen, wünschen mir meine Eltern viel Erfolg. Die Uni stellen sie niemals in Frage“, lacht sie. Jetzt, wo es keine Lehrveranstaltungen gibt und die Bibliotheken geschlossen sind, braucht Zeynep einen neuen guten Grund. „Spazieren gehen tue ich schon ab und zu, aber da kann man sich momentan auch nicht näherkommen, ohne wie jemand zu wirken, dem das Wohl der Menschen egal ist. Das frustriert mich sehr“, so Zeynep. Wenn sie mit ihren Freundinnen aus der Uni über ihre Probleme sprechen will, tut sie das bei Spaziergängen zum Supermarkt. „Zuhause habe ich keine Privatsphäre, wegen meiner Schwester. Die Wände sind dünn, da kann ich nicht über mein Liebesleben sprechen. Auch wenn das momentan nicht existiert.“ In einem Jahr schließt Zeynep die Universität ab, danach möchte sie in eine WG ziehen. „Ich hatte sowieso vor auszuziehen, aber erst Corona hat mir gezeigt, wie viel schneller das eigentlich passieren muss. Das wird sicher nicht einfach werden mit meinen Eltern, aber irgendwie werde ich das schon hinbekommen.“ Zuhause vertreibt sie sich die Zeit auf Tinder. „Mir schreiben eindeutig mehr Typen als vor Corona, wahrscheinlich aus Langeweile.“ Längere Zeit kam ihr die App nicht wie eine Dating-App vor, sondern mehr wie eine Plattform zur Selbstinszenierung. „Tinder ist wie Instagram geworden, es geht schon lange nicht mehr ums Treffen. Sondern um das gute Gefühl, wenn man zwei Dutzend Matches in der Inbox hat. Das ist wie Likes sammeln.“

Rausschleichen wie früher

In Ninas* Innsbrucker WG sorgten zwar keine strengen Eltern für Stress, dafür aber zwei übervorsichtige Mitbewohnerinnen. „Ich dachte, ich müsste so etwas nicht mehr machen, wenn ich nicht mehr bei meinen Eltern wohne – aber ich habe mich nachts einfach rausgeschlichen, um mein Gspusi zu treffen“, so die 28-Jährige. Ihre Mitbewohnerinnen wollten nämlich partout nicht, dass Nina sich mit Leuten trifft. „Sie waren der Meinung, dass man nicht einmal spazieren gehen sollte, wie es eben in Tirol so war.“ Zwei Mal wöchentlich verließ sie nachts das Haus, um sich in eine andere WG zu schleichen. „Eine meiner Mitbewohnerinnen arbeitet beim Bäcker und geht daher früh schlafen. Die andere hat ohnehin niemals Dates und ist meistens genauso um halb zehn im Bett.“ In der Gspusi-WG war es überhaupt kein Problem, wenn Nina nachts vorbei kam. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass die beiden es gemerkt haben, weil sie mit offener Schlafzimmertür schlafen. Es gibt nämlich noch einen Hund bei uns.“ Zu einer Konfrontation kam es zu Ninas Erstaunen aber nie.

Corona-Sexpraktiken

Helena* ist 27 und hat seit einigen Wochen eine „Fickbeziehung“, wie sie es nennt. „Wir wissen beide voneinander, dass wir uns eigentlich ganz gut an die Abstandsregeln halten. Deshalb treffen wir uns“, so die Studentin mit kroatischen Wurzeln. „Obwohl, einmal hat er mich besucht und hat mir dann plötzlich einen Polster auf mein Gesicht gelegt, als wir Sex hatten. Aber nicht auf eine sexy Art“, lacht sie. „Er meinte, dass er das macht, damit mein Atem ihn nicht so trifft, wegen Corona. Ich hab nur den Polster weggelegt und wir haben normal weitergemacht. Das war schon ein bisschen komisch.“

Liebe in Zeiten von Corona
Illustration: Linda Steiner

Datingfaktor Abstand

Ada* ist seit Wochen mehr als verunsichert. Einerseits achtet sie auf die Hygiene- Maßnahmen, andererseits fühlt sie sich ein wenig einsam. „Ich hätte gerne eine Person, mit der ich das durchstehen kann. Ich gehe auf viele Dates, aber meistens ist nie der Richtige dabei“, erzählt die 28-Jährige. Seit Jahresanfang wohnt sie in ihrer ersten eigenen Wohnung, das lange WG-Leben war damit vorbei. „Ich wohne wirklich gerne alleine, aber trotzdem fehlt gerade der ideale Corona- Buddy. Ich bin mittlerweile genervt, wie viele Bekannte sich von mir nur mehr sporadisch melden.“ Ada ist auf allen gängigen Dating-Plattformen unterwegs und vereinbart Treffen zum Spazieren oder Radfahren. „Man fragt sich dann immer ganz vorsichtig, wie man das mit dem Abstand so macht und ob man sich daran hält. Das ist schon ein Faktor, der immer mitspielt. Wenn man eine fremde Person trifft, will man ja wissen, ob sie ‚safe‘ ist.“ Das Abstandhalten bestimmt damit auch die Vertrauenswürdigkeit einer Person. „Würde man erzählen, dass man ständig auf Partys geht, wirkt das fast ein bisschen asozial und gefährlich. Es wird schwierig, sich näher zu kommen, auch wenn ein Date mal gut läuft.“

Die neue Gretchenfrage

„Nun sag, wie hältst du es mit dem Abstand?“ – das könnte die neue Gretchenfrage unserer Zeit werden, die sich mit unserer Vernunft immer wieder aufs Neue duellieren wird.

* alle Namen von der Autorin geändert.

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