Interview mit Selin Tamtekin über ihr Buch "Die Tochter des türkischen Diplomaten"

13. Dezember 2010

Monatelang stand Selin Tamtekin alias Deniz Goran mit ihrem Buch „Die Tochter des türkischen Diplomaten“ in der Türkei auf den Bestsellerlisten. Die Presse nannte sie Hure, ihr Vater brach den Kontakt zu ihr ab, weil sie zu freizügig über Sex sprach und die Doppelmoral der Istanbuler Gesellschaft beim Thema Sex anprangerte. Drei Jahre später, arbeitet sie an ihrem neuen Buch – dem biber gab sie ein Interview.

 

biber:  Frau Tamtekin, Ihr Buch war das erste, das sehr offen und unverhohlen über das Sexualleben der muslimischen Frau zu schreiben. Wie kamen Sie auf die Idee? Warum war Ihnen das ein Anliegen?

 SELIN TAMTEKIN: Ich habe meine Kindheit in Sydney verbracht und bin erst mit 12 Jahren in die Türkei gezogen. Dort habe ich einen Kulturschock erlebt. Während in Australien keine Diskrepanz zwischen Mann und Frau zu spüren war, habe ich als Mädchen, das gerade die Pubertät durchmachte, bemerkt, dass ich anders behandelt wurde. Ich fand ich die Erwartungen, die die Gesellschaft an mich stellte äußerst merkwürdig: Warum sollte ich als Frau meine Lebensweise und mein Benehmen einschränken? Ich hatte wirklich Probleme damit, mich anzupassen. In der Türkei sind die Geschlechterrollen klar vorgeschrieben und die Grenzen sehr deutlich gezogen. Vor allem, was das Thema Sex betrifft: Hier wird von einer Frau erwartet, sich an vorgegebene Schablonen zu halten.

Auch in jenen Gesellschaftskreisen, die von sich behaupten, besonders modern, zivilisiert und unabhängig zu sein, herrscht ein geheimer Druck und bestimmte Erwartungshaltungen an Frauen. Dagegen habe ich mich immer gewehrt und mit mir selbst gekämpft. Das ist einer der Gründe, warum ich mich entschlossen habe, diesen Roman zu schreiben. Mein Buch wird aus der Sicht einer starken Romanheldin erzählt, welche meine Sorgen, innerlichen Kämpfe zu Wort bringt.
 
 
Sie haben Ihr Buch unter einem Synonym geschrieben, haben sich aber relativ schnell geoutet. Wovor hatten Sie vorher Angst und warum dann nicht mehr?

Bei meinem Buch handelt es sich um einen fiktiven Roman, der Inhalte aus meinem Leben, aber auch aus dem Leben von Menschen aus meinem Umfeld wiedergibt. Inspiriert von Begebenheiten, die ich gehört oder gesehen habe, habe ich dieses Buch geschrieben. Der Name Deniz Goran hat mir ermöglicht, einen gewissen Abstand zwischen mir und der Autorenidentität zu schaffen. Diese fiktive Identität hat mir auch ermöglicht, Themen, die ich behandeln wollte, locker und ohne Grenzen setzen zu müssen, zu schreiben.

Die Absicht dahinter war also nie, meine wahre Identität zu leugnen. Sonst hätte ich ja wohl kaum, noch ehe mein Buch veröffentlicht worden ist, schon bei meinem ersten Interview Fotos schießen lassen, geschweige denn, diese auch veröffentlicht. Daraufhin hat die türkische Presse meine wahre Identität ans Licht gebracht und Unmengen von Berichten über mich gebracht. Die Folge war, dass jeder heiß auf ein Interview mit mir war.

Solch reges Interesse an meiner Person war ich nicht gewohnt, das hat mich ganz schön fertiggemacht. Was mein näheres Umfeld betrifft: Die meisten wussten sowieso, dass ich an so einem Buch schreibe, sie waren also nicht schockiert. Alles in allem hat das Buch – trotz der medialen Aufregung – einen positiven Einfluss auf mein Leben gehabt. Ich habe Spaß am Schreiben und werke gerade an meinem zweiten Buch.

 
Ihr Buch erschien zuerst auf Englisch und dann auf Türkisch. Wie gut verkaufte sich Ihr Buch in der Türkei?

In der Türkei war das Buch monatelang aus den Bestsellerlisten nicht wegzukriegen. Bis jetzt gibt es fünf Auflagen und der Verlag hat mir gemeldet, dass auch die sechste Auflage bald erscheinen wird.

Ihr Buch erschien 2007, türkische Zeitschriften nannten Sie damals Hure. Wie schätzen Sie ein, wie Sie jetzt wahrgenommen werden, in der Türkei und in Europa?

Diese Unterstellungen sind typisch für die sensationsgeile türkische Presse. Ebenso ist es normal, Frauen, die abseits jeder Norm agieren und frech und anders als andere sind, einfach etwas zu unterstellen. Das Lustige ist ja, dass ich genau das auch in meinem Buch anspreche, nämlich, dass Frauen, die ihre Sexualität frei ausleben, in unserer Gesellschaft gleich als Schlampe bezeichnet werden. Es ist nun mal so, dass sich die meisten Menschen in der Türkei  schwertun, frei und mit Niveau über Sex zu sprechen. Diese Denkweise, die Ehre einer Frau zwischen ihren Beinen zu suchen, lässt gar nicht zu, die Frau als ein Individuum zu sehen, sondern vielmehr als ein Sexobjekt. Dabei definiert sich die Ehre einer Frau, welche Werte sie hat. In jeder Gesellschaftsschicht muss endlich erkannt werden, dass die Frau in erster Linie ein Individuum ist und genau dieselben Rechte hat, wie ein Mann.
 
 
Sie kennen sowohl Istanbul sehr gut, wie auch London. Wie unterscheidet sich die europäische türkische Community von jener in der Türkei im Umgang mit Sexualität? Wie würden Sie das einschätzen?

Wenn wir allgemein sprechen, sehe ich nicht wirklich einen Unterschied, weil wir nunmal unsere Werte, Traditionen und Lebenseinstellung nicht so einfach an den Ort, an dem wir uns befinden, anpassen und entsprechend ändern. Natürlich kann man das aber nicht verallgemeinern. Außerdem kommt es mehr darauf an, wie man erzogen worden ist und was für einen Freundeskreis man hat, als auf die geografische Lage. 
 
Eigentlich hat Sexualität im Islam einen sehr hohen Stellenwert – theoretisch gesehen zumindest. Wie kommt es, dass dieses Thema derartig tabuisiert wird?

Dazu kann ich eigentlich nichts sagen, da ich nicht gläubig bin und dementsprechend ist mir nicht bekannt, wie genau der Islam zum Thema Sexualität steht.

Sind Männer offener, wenn es darum geht, über Sex zu sprechen? Wie ist das bei Ehepaaren?
 
Ich glaube, das hat nichts mit dem Geschlecht zu tun, denn jeder hat ein individuelles Verhältnis und Einstellung zu diesem Thema. Es steht jedem frei, darüber zu sprechen, oder auch nicht. Es muss auch nicht jeder über sein Sexleben sprechen, denn das ist wie gesagt, individuell sehr unterschiedlich. Ich habe erlebt, dass vor allem Jugendliche eher den Drang haben, es zu thematisieren, was auf ihre hormonellen und körperlichen Veränderungen zurückzuführen ist, aber auch auf ihre Unerfahrenheit.

 
Sie bemängeln die Doppelmoral, dass Sexualität anders gepredigt als gelebt wird. Provokant gefragt: Was wollen Sie? Sexuelle Freiheit für alle? Inwiefern ist das westliche Modell wirklich ein guter Maßstab? Inwieweit kann man wirklich auf Ehe, Treue und Monogamie verzichten? Wie stehen Sie dazu?

 Der ideale Zustand ist ebenfalls individuell unterschiedlich, aber auf jeden Fall bin ich für die Freiheit. Jeder Junge und jedes Madchen soll ihre Sexualität und die Vorlieben in einem gesunden Maß frei ausleben können, ohne gesellschaftlichem Druck ausgesetzt zu sein. Diesbezüglich finde ich den westlichen Lifestyle wesentlich gesünder, da dieser mittlerweile frei von jedem Tabu ist. Ohnehin finde ich Tabus gefährlich, denn sobald Sex tabuisiert und mit Sanktionen belegt wird, tappen die Menschen im Dunkeln und sind unwissend. Das kann ungewollte Schwangerschaften verursachen, genauso wie Geschlechtskrankheiten. Deshalb sollte es unsere Aufgabe als Gesellschaft sein, Menschen – vor allem die Jungen – aufzuklären, anstatt sie mit Tabus zu behaften.
 
Ehe, Treue und Monogamie – Sollte man diese Werte neu überdenken oder geht ein freies Ausleben der eigenen Sexualität durchaus damit einher?

 Auch kann man nicht allgemein sprechen, denn da kommt es auf die Werte und Lebensweise jedes Einzelnen an. Nicht jeder mag von einem Leben mit ein und derselben Person an seiner Seite träumen und muss das auch nicht. Ich selbst bin für Monogamie, doch das ist meine persönliche Entscheidung. Egal wofür man sich entscheidet, sollte einem klar sein, dass jede Beziehung – sollte sie auch nur eine Nacht lang dauern – Verantwortung mit sich bringt. Alles sollte sich im Rahmen von Respekt und Ehrlichkeit abspielen.
 
 

 

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