"The Jungle" - Das Flüchtlingscamp auf der bosnischen Müllhalde

18. Oktober 2019

Der bosnische Ort Vučjak, versteckt hinter den Bergen der Stadt Bihać nahe der Grenze zu Kroatien, könnte diesen Winter unrühmliche Bekanntheit erlangen. Eigentlich eine ehemalige Müllhalde, ist Vučjak derzeit das schlimmste Flüchtlingslager Europas. 


Von Petar Rosandić, Murtaza Elham 

Hier werden Menschenleben weggeworfen“, sagt der deutsche Journalist und Humanitäter Dirk Planert, nachdem er uns – unter Einsatz all seiner Verhandlungskünste – am Checkpoint der bosnischen Polizei vorbeiführt. Unangemeldete Gäste aus dem Ausland und Journalisten, die die Bilder dieser Katastrophe in die Welt hinaustragen, sind hier nicht mehr so gerne gesehen. Denn es ist zweifellos ein Schandfleck europäischer, bosnischer und lokaler Asylpolitik: 800 bis 1000 Geflüchtete leben hier seit Juni auf der abgelegenen, ehemaligen Müllhalde - auf engstem Raum in unbeheizten Zelten, umgeben von Dreck, ohne fließendes Wasser und Strom und mit nur einer Mahlzeit pro Tag. Auch sanitäre Anlagen gibt es nicht. Die Flüchtlinge selbst nennen das Camp selbstironisch „the jungle“, unter anderem auch deswegen, weil neben Schlangen in der näheren Umgebung auch Landminen aus dem letzten Balkankrieg zu finden sind. Eine davon haben die Flüchtlinge, wie sie uns erzählen, erst letzten August gefunden. 

Flüchtling, CampHat nicht wirklich viel zu lachen: Baran aus Afghanistan

DAS „GAME“ MIT DER KROATISCHEN POLIZEI
Der junge Inder Sonur Rajput, 24, erklärt uns als Erster, was wohl alle Bewohner im „jungle“ gemeinsam haben: Es ist der Traum vom „Gewinnen des Games“. Das Game? Ja, so bezeichnen die Geflüchteten das „ewige Spiel“ mit der kroatischen Grenzpolizei: Wer es schafft, nicht von den Grenzbeamten gefasst zu werden und EU-Boden zu erreichen - der hat das Game gewonnen. Wer hingegen – wie alle, die in Vučjak festsitzen – von der kroatischen Grenzpolizei auf die bosnische Seite der Grenze zurückgeschlagen wurde, der muss nicht nur mit einer Retourfahrt nach Vučjak rechnen, sondern braucht danach auch oft dringend einen Arzt. „Hier, schauen Sie, die Schulter haben sie mir gebrochen. Geschlagen haben sie uns, nachdem sie uns unsere Telefone, unsere Schuhe und unser ganzes Hab und Gut genommen haben“, erzählt der Afghane Baran, dessen Oberkörper fast zur Gänze im Gipsverband ist. Es ist eine Geschichte, die für hundert weitere steht: Die meisten - viele von ihnen noch immer barfuß - zeigen uns Verletzungen, zerschlagene Handy-Bildschirme und erzählen von der Brutalität der kroatischen Grenzpolizei. „Sagt denen bitte doch, dass wir auch nur Menschen sind“, bittet uns Sonur. 

Die Geflüchteten suchen während unseres Besuchs im Camp aktiv das Gespräch mit uns, wollen sich mitteilen. Man hat das Gefühl: Es ist ein letzter Hilfeschrei derer, die der kompletten Aussichtslosigkeit trotzen und noch immer einen ungebrochenen Lebenswillen demonstrieren. So steht für sie weiterhin fest: „Ja, wir werden es wieder versuchen, die Grenze zu übertreten“. Auch für die „Neuen“, die gerade mit dem Kastenwagen der bosnischen Polizei ins Camp gebracht werden, genau zur gleichen Zeit als wir uns dort befinden. Erst dann merke ich, wie viele Menschen in so einen Kastenwagen eigentlich passen können und frage mich, wie eng es da drinnen wohl gewesen sein muss. 

Flüchtling,Camp,SonurDer junge Inder Sonur hat sich beim Fluchtversuch verletzt 

KRIMINALISIERTE FLÜCHTLINGSHELFER
Als wir - eine private Gruppe von Flüchtlingshelfern aus Österreich - Ende September Spenden runterbrachten, waren wir uns auf dem Rückweg alle einig: Wir müssen wiederkommen. Und nächstes Mal am besten gleich mit mehreren LKWs. Die oberösterreichische „Flüchtlingsmama“ Brigitte Holzinger begann wieder Spenden aus dem Westen zu sammeln und wir (Filis Bilgin, Georg Hocecker und ich) haben in Wien den ersten Spendenaufruf gestartet, nach- dem wir einen Raum gefunden haben, wo wir die Spenden bis zum Transport lagern wollten. 

Doch, als es wieder für uns richtig losgehen sollten, kam plötzlich ein Anruf von Dirk Planert: „Wir dürfen nicht mehr ins Camp“. Und: „Alle Spenden und jegliche Hilfe ist jetzt illegal“. Das von ihm formierte, ehrenamtliche „Team Vučjak“, welches sich von Beginn an um die medizinische Versorgung der Flüchtlinge gekümmert hat, wurde zum Großteil des Landes verwiesen und musste ein Bußgeld von 150 Euro pro Person zahlen. Die völlig unverständliche Entscheidung trafen die bosnische Ausländerbehörde und das Gesundheitsministerium des Kantons „Unsko-sanski“. 

Flüchtling, Camp, Senat, Lulic„Ach, wir waren doch selbst Flüchtlinge“, Senad Lulic. 

DIE KATASTROPHE INDER KATASTROPHE
Während dank Planert, einer ungarischen Ärztin, den österreichischen Krankenschwestern und deutschen Sanitäterinnen vor Ort, die Flüchtlinge in einer ganztags offenen „Zelt-Ambulanz“ sofort im Camp verarztet werden konnten, gibt es aktuell nur eine zwei Kilometer weit vom Camp entfernte Ambulanz, die zwei- mal wöchentlich für drei Stunden ihre Türe aufmacht. Es ist wohl die Katastrophe in der Katastrophe: Nun stellt sich nicht nur die Frage, wie die Flüchtlinge diesen Winter in Vučjak überleben wer- den, sondern auch die der medizinischen Versorgung. 

In unserer Machtlosigkeit blieb uns nichts anderes übrig, als vor der bosnisch-herzegowinischen Botschaft in Wien eine Demonstration zu organisieren. Unterstützt wurden wir dabei auch von Kemal Smajić, dem Obmann der Bosnisch Herzegowinischen Kulturplatt- form. Als selbst ehemaliger Flüchtling hielt Smajić eine sehr bewegende Rede und erinnerte daran, wie „seiner Familie und ihm 1992 in einem Flüchtlingscamp in Floridsdorf wieder der Glaube an die Menschheit zurückgegeben wurde“. „Gerade der Staat Bosnien-Herzegowina müsste bei der Flüchtlingsthematik - aus der eigenen Geschichte heraus - sensibler und verantwortlicher handeln“, war man sich nicht nur bei der Demo einig. 

Doch, was nicht der Staat tut, tun mancherorts seine Bürgerinnen und Bürger: Vor dem Supermarkt in Bihać verteilt der Filialleiter Sandwiches an einige Flüchtlinge. „Ich kenne die Gefühle, die Angst, das Leid... Ach, wir waren doch selbst Flüchtlinge“, sagt mir der Pensionist Jusuf Lulić. „Wer soll sie denn verstehen - wenn nicht wir, die Bosnier?“, sagt Lulić abschließend. 

Flüchtling, Camp, KrankenstationDer Autor des Textes (rechts) in der provisorischen Krankenstation in Vučjak

 

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