Mein Leben mit einer Essstörung.

13. Juni 2017

von Anonym

Jugendzeit, du schöne Zeit? Nicht bei mir: Sechs Jahre lang leide ich an einer Essstörung. Heißhungerattacken, Depressionen und Selbsthass sind mein ständiger Begleiter.

Die Sommerferien sind eingebrochen und wir sind am Weg nach Kroatien. Es macht mich überglücklich, meine Verwandtschaft nach einer gefühlten Ewigkeit wieder zu sehen. Nachdem ich meine älteren Verwandten begrüßt habe, laufe ich zu meinen Cousinen in ihr Café. Als sie mich aber sehen, werde ich ausgelacht. Sie trillern mir ein Willkommensständchen: „Du bist fett geworden, du bist fett geworden, du bist sooo fett geworden. Du Schweinchen!“ Sie kneifen meine „lustigen Speckröllchen“ und machen mich vor ihren Freunden, darunter auch mein Sommerschwarm, zum Gespött. „Sagen wir es mal so, sie ist dezent gefüllt, haha!“, wendet eine der Anwesenden ein. Das schmerzt. Von meiner Freude ist nichts mehr übrig. Ich bleibe aber, lache über mich selbst und wünsche mir, vom Erdboden zu verschwinden. Damals bin ich gerade 17 Jahre alt geworden.

Wie alles begann

Spulen wir zurück. Es war nicht immer so. Als kleines Kind habe ich einen mangelnden Appetit. Mit dem Einbruch des 15. Lebensjahrs ändert sich das aber gewaltig. Ich verspüre zum ersten Mal ein richtiges Verlangen nach Essen. Mit der Zeit bekomme ich einen knackigen Po, eine schöne Oberweite und süße Grübchen. Es gefällt mir, was ich im Spiegel sehe. Ich finde mich so schön wie Jennifer Lopez. Mit jedem Gramm mehr werde ich selbstbewusster. Bis zu diesem Zeitpunkt fühle ich mich eigentlich wohl in meiner Haut. Als ich 16 Jahre alt bin, wiege ich bei einer Körpergröße von 160 cm 57 Kilo. Doch die abrupte Gewichtszunahme verwirrt mein Umfeld: Freunden, Bekannten und Verwandten gefalle ich plötzlich nicht mehr. Das verdeutlichen sie mir mit Aussagen wie diesen: „Du solltest aufpassen, nicht noch mehr zuzunehmen. Das ist wirklich schon grenzwertig.“ Damals ist es mir nicht egal, was meine Mitmenschen über mich denken. Da helfen mir die aufmunternden Worte meiner Eltern auch nicht viel. Ich beginne noch mehr zuzulegen, sowohl wegen des schulischen Stresses als auch wegen des gesellschaftlichen Drucks. Denn überall, wo ich in meinem Bekanntenkreis hinsehe, sind Heidi-Klum-Verschnitte, perfekte Mädels, die alle Jungs abbekommen. Ich hingegen werde zum hässlichen und dicken Entlein gemacht – wegen meines Gewichts. Werbeplakate trichtern allen ein: Nur wenn du dünn bist, bist du ein Jemand. Sexy Bilder von kurvigen und selbstsicheren Frauen wie Rachel Graham, die dir sagen: „Steh zu dir und deinem Body!“, gab es damals nicht. Mein Selbstbewusstsein ist im Keller. Zu diesem Zeitpunkt beginnen meine starken Ess-Attacken, aus Frust, den anderen nicht zu gefallen. Allein in der Nachmittagspause verschlinge ich drei Schnitzelsemmel inklusive Fritten und hänge zwei Snickers dran – das reicht dann meist nur für eine Stunde. Kein Sättigungsgefühl in Sicht. Eine Zeit lang leiden sogar die Nächte daran. Ich bleibe stundenlang wach, sitze im Dunkeln vorm Kühlschrank, um meinen unkontrollierten Heißhunger zu stillen. Das Erste, woran ich am nächsten Morgen wieder denke: Essen. Ich wiege mich mindestens fünf Mal pro Tag, denn nach jeder Mahlzeit muss die Waage her.

Ich will mir wehtun

Aus den 57 Kilo werden plötzlich 75 Kilo. Laut BMI habe ich Übergewicht. Es folgen täglich Seitenhiebe wegen meines Aussehens, meine Bekannten lassen mich wissen: „Du bist richtig dick, unternimm was dagegen.“ Auch auf der Straße oder beim Fortgehen wird mir von Fremden zugerufen: „Fette Sau, nimm ab!“ oder „Schäm dich Mädel, du bist so hässlich“. Ich bekomme starke Depressionen, fühle mich sehr einsam. In der Schule lasse ich so sehr nach, dass ich mit 17 Jahren sitzenbleibe. Die Sommerferien-Begegnung mit meinen Cousinen bringt letztlich das Fass zum Überlaufen. Ich fühle mich wie der größte Versager auf Erden.  Überwältigt von meinen Affekten beschließe ich mir eines Abends wehzutun, doch an mögliche Folgen denke ich dabei nicht. Ich versuche mir mit einer Überdosis an Medikamenten – 50 Stück Tabletten – das Leben zu nehmen. Kurz nach der Pillenzufuhr setze ich mich vor den Fernseher. Und dann geht’s ganz schnell: Ich verliere jegliche Kontrolle über meinen Körper, es folgt so etwas wie ein epileptischer Anfall. Es bildet sich eine Unmenge an Schaum vor meinem Mund. Bevor ich bewusstlos werde, höre ich meine kleine Schwester schreien: „Du darfst nicht sterben!“ Noch in derselben Nacht lande ich auf der Intensivstation. Das Erste, was ich sehe, als ich am nächsten Tag aufwache, sind meine weinenden Eltern, sitzend an meinem Krankenhausbett. „Musste es so weit kommen, dass du endlich begreifst, nicht allein zu sein?“, dachte ich damals. Ich verbringe noch einige Tage im Krankenhaus. Das Zimmer teile ich mir mit einem 8-jährigen Mädchen und ihrer Mama. Die Kleine hat einen Hirntumor. Während sie um ihr Leben bangt, will ich meines wegschmeißen. Nach meinem Suizidversuch bekomme ich professionelle Hilfe und nehme gemeinsam mit meinen Eltern Therapiestunden.

Ein Hin und Her – von einer Diät zur anderen

Die nächsten Monate gebe ich alles dafür, wieder ein normales Verhältnis zu meinem Körper zu bekommen. Ich treibe so viel Sport wie noch nie zuvor und halte mich an den gesunden Diätplan meiner Ärztin. Die Kilos beginnen zu purzeln. Ich bin seit Langem wieder „glücklich“, in der Schule geht es auch bergauf. Ich setze alles daran, Anerkennung von meinen Bekannten zu bekommen: Ein kleines „Wow, das machst du echt gut!“ erhoffe ich mir – leider vergeblich. Stattdessen werden lieber Gerüchte über mich verbreitet: „Die steckt sich den Finger in den Hals“ oder „Da ist fix ne Fettabsaugung im Spiel“. Ich versuche, die Beleidigungen an mir abprallen zu lassen. Es gelingt mir nur zum Teil. Ganz wegzuhören, ist für mich damals schwierig. Von heute auf morgen folgt ein Teufelskreis: Bis zu meinem letzten Schultag springe ich von einem Gewicht zum anderen, mal nehme ich wieder zu und dann wieder ab.

Bloß eine Nummer und innere Leere

Mit 20 Jahren, direkt nach der Matura, beginne ich zu studieren, lebe aber weiterhin bei meinen Eltern. Ich lerne zwar neue Menschen kennen, möchte aber niemanden zu sehr an mich ranlassen. Die Angst davor, verletzt zu werden, ist groß. Stattdessen werden die Bücher meine Freunde. Ich pauke wie ne Irre und merke nicht, durch den ganzen Lernstress viel Gewicht zu verlieren. Damals wiege ich 45 Kilo. Schnell gewöhne ich mich daran, nur eine Nummer auf der Uni zu sein. Es gefällt mir, nicht richtig beachtet zu werden, manchmal sogar unsichtbar in der großen Masse zu sein. Mein Kaffee- und Zigarettenkonsum steigt von Tag zu Tag, dafür werden die Portionen meiner Mahlzeiten immerzu kleiner. Ich reduziere meine Kalorienzufuhr aufs Minimalste: zwei Äpfel am Tag, ein bisschen Wasser und ein Käsebutterbrot müssen reichen. Denn fürs Essen gibt’s keine Zeit. Als ich eines Tages eine richtig schlimme Magen-Darm-Grippe bekomme, nimmt die Gewichtsabnahme zu. Kurz danach schlittere ich in die Magersucht hinein: Ich verliere viele Haare und mir ist oft kalt. Mein Kopf wirkt riesig im Vergleich zu meinem Körper, meine Wangenknochen stechen extrem hervor und durch das wenige Trinken habe ich starke Schatten unter den Augen. Nicht nur äußerlich, auch innerlich ändere ich mich radikal. Das Gefühl der Leere überfällt mich. Ich fühle mich, in meiner eigenen grauen Welt gefangen, die von Selbsthass, Trauer und Hoffnungslosigkeit durchzogen ist. Ich sitze oft im Dunkeln, allein in meinem Zimmer und starre die Wand an. Meine Eltern merken, dass etwas nicht stimmt. Ich blocke ab und versuche ihnen einzureden, dass es die Folgen meiner Grippe sind, die mich so ausgehungert aussehen lassen. Über Wochen gehe ich ihnen aus dem Weg, indem ich von früh- bis spätabends auf der Uni bin und mich in meiner Freizeit in der Bücherei verstecke. Auf die gemeinsamen Mahlzeiten wird auch verzichtet. Damit sie nicht sehen, wie dünn ich eigentlich bin, trage ich meistens drei T-Shirts übereinander gestülpt, übergroße Pullis und Westen, weite Hosen und drunter dicke Strumpfhosen – zum Glück war es damals Winter.

 

Doch mit der Zeit spüre ich kaum Kraft in mir. Wenn ich mal fünf Teller aufeinander gestapelt halte, beginnen beide Arme zu zittern. Die banalsten Dinge verlangen enorme Anstrengung und mit jedem Schritt habe ich das Gefühl, zusammenzubrechen. Meine Knochen fühlen sich so schwer wie Steinbrocken an. Ich bilde mir ein, sie bei jeder Bewegung knacksen zu hören. Von da an merke ich, dass etwas nicht mit mir stimmt. Seit Langem stelle ich mich wieder auf die Waage: Mit 21 Jahren wiege ich 39 Kilo. Es schockiert mich so sehr, dass ich mich meiner Ärztin anvertraue. Nach vielen klärenden Gesprächen mit ihr und meinen Eltern, wage ich es, mich dem Kampf gegen die Essstörung zu stellen. Taste mich langsam wieder ans Essen heran und schaffe durch viel Eigenengagement, Willenskraft und Hilfe von anderen, die Krankheit niederzuzwingen. Ich hatte es satt, ein wandelndes psychisches Wrack zu sein, das sich selbst immer mehr zugrunde richtet. Mein einziger Wunsch: Endlich ein normales und glückliches Leben zu führen.

Nimmt euch an, so wie ihr seid

Heute geht es mir gut, ich lebe in einer glücklichen Beziehung und stehe zu meinem Körper. Bald feiere ich meinen 28. Geburtstag. Nun kann ich sagen: Ich habe meine Essstörung endgültig besiegt, denn Seele und Körper sind jetzt eins. Nicht mehr ans ständige Kalorienzählen denken zu müssen, macht mein Leben um so viel schöner. Ich erkenne, wofür es sich zu leben lohnt. Es sind die kleinen unscheinbaren Dinge und die Liebe meiner Familie, die mir wieder neuen Lebensmut einhauchen. Ich habe vergessen, wie unbezahlbar ein Pyjama-Abend samt Pizza- & Eisorgien mit meiner Mama & Sis ist, wie schön es sich anfühlt, lautes Kinderlachen in der U-Bahn zu hören, den Duft von frischgemähtem Gras in der Nase zu haben, einen Schmetterling beim Fliegen zu beobachten, oder wenn mir jemand zärtlich mein Gesicht streicht und mir sagt, wie stolz ich auf mich sein kann. Mein Blick auf die Welt hat sich verändert – zum Positiven. Dennoch denke ich beinahe jeden Tag an die vielen „verlorenen Seelen“, die – so wie auch ich damals – ein vollkommen verzerrtes Wahrnehmungsbild von sich selbst haben. Erst neulich veröffentlichte eine biber-Redakteurin eine Reportage, worin sie sich intensiv mit der heiklen und äußerst sensiblen Thematik auseinandersetzt und darüber aufklärt. Darin sprechen drei Frauen über ihr Leben mit der Magersucht und geben mir enorme Kraft, zum ersten Mal über meine eigene Essstörung zu schreiben. Heute weiß ich: Jeder Einzelne ist schön und etwas ganz Besonderes. Denn das größte Geschenk, das wir uns selbst machen können, ist, uns anzunehmen, so wie wir sind. Mögen noch so viele Size-Zero-Models um uns kreisen oder Germanys-Next-Topmodel-Staffeln gedreht werden, keiner wird mir jemals wieder einflößen, nicht gut genug für diese Welt zu sein.

 

 

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