Wie sicher vor Menschenhandel sind Geflüchtete bei der Einreise in die EU? - Interview mit Claire Healy vom UNODC

05. Mai 2022

Seit Russlands Angriffskrieg sind über fünf Millionen Ukrainer*innen auf der Flucht. Dass  Menschenhändler*innen die Krisenlage ausnutzen wollen, wird auf sozialen Netzwerken, aber auch direkt bei der Ankunft in den Bahnhöfen deutlich. In der Vergangenheit waren Berichte darüber eher selten, und das obwohl es sich um ein omnipräsentes Verbrechen handelt, das zu den ältesten der Menschheit zählt. Welche Ausbeutungsformen unter den Begriff Menschenhandel fallen, welche Faktoren besonders verwundbar machen, warum sich die Sicherheitslage in der EU von Ukrainer*innen und Geflüchteten aus anderen Ländern unterscheidet, wie man sich und andere schützen kann und was wir für eine Zukunft ohne Menschenhandel brauchen, verrät Dr. Claire Healy, Social Affairs Officer beim UNODC, dem Büro für Drogen- und Verbrechensbekämpfung der Vereinten Nationen in Wien  

von Šemsa Salioski

 

Wie viele Personen fallen Menschenhändler*innen jährlich zum Opfer?

Das UNODC erstellt den globalen Bericht dazu. Der letzte ist aus dem Jahr 2020, daher ein wenig veraltet. Er basiert auf Daten aus den Jahren 2016 bis 2018 und zählt um die 300 000 Fälle, die in dem Zeitraum aufgedeckt wurden. Die genauen Zahlen dafür werden uns von den UN-Mitgliedsstaaten selbst zur Verfügung gestellt. Wir können leider nicht jedes einzelne Land berücksichtigen, wenn uns die notwendigen Informationen dazu nicht übermittelt werden, versuchen aber mindestens 130 Länder zu erfassen. Die Vereinten Nationen und andere Organisationen sind sich aber auf jeden Fall darüber einig, dass die tatsächliche Opferanzahl sehr viel höher ist.

 

Es gibt verschiedene Ausbeutungsformen durch Menschenhandel wie Zwangsarbeit, häusliche Leibeigenschaft, sexuelle Ausbeutung und Zwangsbettelei. Welche davon ist derzeit wo am weitesten verbreitet?

Im Global Report dokumentieren wir auch noch Zwangsheirat und Ausbeutung im Zusammenhang mit kriminellen Aktivitäten, was bedeutet, dass Personen hierbei gezwungen werden Straftaten zu begehen. Was im Kriegskontext vielleicht gerade relevant ist, ist die Ausbeutung in bewaffneten Konflikten, wo Menschen dazu gebracht werden an Kriegshandlungen teilzunehmen.

Menschenhandel findet auf dem ganzen Globus verteilt statt. In gewisser Weise könnte jeder gefährdet sein. Es ist also wirklich wichtig einzelne Situationen zu betrachten und zu verstehen, welche Faktoren Menschen verwundbar machen. In bestimmten Regionen wird schon eventuell entweder mehr sexuelle Ausbeutung oder mehr Arbeitsausbeutung gemeldet, jedoch bekommen wir nur mit, was aufgedeckt wird. Und das hängt vom Fokus des jeweiligen Staates ab. Was ich dazu sagen kann, ist, dass in Europa, insbesondere in den letzten fünf oder sechs Jahren, vermehrt Fälle der Arbeitsausbeutung von Männern aufgedeckt wurden. In Westafrika gibt es eine höhere Aufdeckungsrate von Kindern im Zusammenhang mit Zwangsarbeit. Und in anderen Teilen der Welt wie etwa im Nahen Osten werden mehr Fälle von Frauenhandel für sexuelle Ausbeutung aufgedeckt. Außerdem muss Menschenhandel nicht unbedingt grenzüberschreitend sein. Die US-Regierung hat unzählige Fälle von Menschenhandel für sexuelle Ausbeutung innerhalb des Landes festgestellt.

 

Derzeit gibt es zahlreiche Berichte über ukrainische Geflüchtete, die einem hohen Menschenhandels- bzw. Ausbeutungsrisiko ausgesetzt sind.  Medien und Organisationen schlagen Alarm. Welche Maßnahmen werden ergriffen, um Schutz zu gewährleisten?

Geflüchtete werden gebeten Fotos von den Personen zu machen, die sie mitnehmen wollen, zusammen mit dem Fahrzeug und dem Kennzeichen. Sie sollen diese dann am besten an Familienmitglieder oder Freund*innen schicken. Wenn Helfer*innen damit nicht einverstanden sind, fahren Geflüchtete nicht mit ihnen mit. Aktuell wird auch versucht eine Art Registrierung aller Menschen einzurichten, die Ukrainer*innen mit Mitfahrgelegenheiten und Unterkünften weiterhelfen wollen. Es ist natürlich schwierig zu unterscheiden, ob jemand aus humanitärer Verpflichtung oder aus anderen Motiven auftaucht. Das Ganze ist nicht einfach, da alles innerhalb weniger Wochen passiert ist.

 

Wie sicher vor Menschenhandel sind Geflüchtete bei der Einreise in die EU?

Was die Ukrainer*innen betrifft, sind bisher keine Fälle bekannt. (Stand: 21.03.22)  Man kann nur hoffen, dass es daran liegt, dass sie in dem Zusammenhang gerade sicherer sind als andere Geflüchtete. Ukrainischen Staatsangehörigen und Drittstaatsangehörigen mit Flüchtlingsstatus oder dauerhaftem Aufenthaltsstatus in der Ukraine wird in der EU sofortiger Schutz geboten. Sie können ohne Visum einreisen. Es handelt sich um reguläre Migration. Sie haben Zugang zum Arbeitsmarkt, zu Bildungseinrichtungen und zu medizinischer Versorgung. Das sind positive Nachrichten in dieser schrecklichen Situation. Damit wird die Wahrscheinlichkeit Menschenhänder*innen in die Hände zu fallen reduziert, aber auch Menschenschmuggel verhindert, was Personen eben anfällig für Missbrauch und Ausbeutung macht. Ganz anders ist die Situation für Menschen, die irregulär einreisen, wie Syrer*innen, Iraker*innen oder Afghan*innen, die sehr gefährdet waren und es immer noch sind. Sie haben hier keine Rechte und leider auch keinerlei Schutz vor Ausbeutung jeglicher Form.   

 

Abgesehen vom Krieg: Welche Faktoren erhöhen das Risiko von Menschenhandel und Ausbeutung grundsätzlich?

Beim Schwerpunkt Kinder kann man sich immer folgende Fragen stellen: „Werden in der  Region Kinderrechte geachtet?“, „Haben Kinder Zugang zu Bildung?“,  „Hat jedes Kind eine Geburtsurkunde?“, „Werden Kinder zur Arbeit oder zum Betteln geschickt?“, „Wie verbreitet sind Zwangsheirat, sexueller Missbrauch von Kindern, Sextourismus und Kindesmissbrauch?“. Bei Frauen kann man in erster Linie auf Faktoren bezüglich Gleichberechtigung schauen und sich fragen, ob sie denselben Zugang zum Arbeitsmarkt haben wie Männer und vor allem, ob sie ihre Rechte in der Arbeitswelt auch wirklich kennen. Das gilt im Arbeitskontext aber genauso für Männer.

 

Gibt es Möglichkeiten Menschenhandel zu erkennen? Welche Tricks kommen üblicherweise zum Einsatz?

Ein bekanntes Warnsignal ist wenn Personen bei Jobangeboten für Anreise und Unterkunft bezahlen möchten. Wenn es sich zu gut anhört, um wahr zu sein, ist es das in der Regel auch. Vor allem wenn Einschränkungen beim Punkt Kontaktaufnahme hinzukommen und Aussagen fallen wie "Du brauchst dein Handy nicht mitnehmen!“ oder „Wir nehmen deinen Pass für dich“. Was uns bei Kindern aus der Ukraine große Sorgen bereitet ist die Tatsache, dass sie oft mit Personen unterwegs sind, die weder Elternteil noch Vormund sind. Für viele Erziehungsberechtigte ist es aktuell natürlich schwierig mit den Kindern zu reisen. Als Gesellschaft und als Staaten müssen wir hier besonders genau sein und überprüfen mit wem Kinder hier ankommen.

 

Gibt es Wege, Betroffene im Alltag zu erkennen?

Bei sexueller Ausbeutung sind Signale dafür vor allem von Menschen zu erkennen, die Dienste von Sexarbeiter*innen nutzen. In dem Fall meist Männer.  Zum  Beispiel, wenn es  so wirkt als könnte die womöglich betroffene Person nicht unabhängig handeln, weil sie überwacht wird. Oder, wenn bei Gesprächen herauskommt, dass die Person keine eigene Wohnung sowie keinen Zugang zu den eigenen Dokumenten hat und den eigenen Status in dem Land nicht kennt. Außerdem ist jede Beteiligung von Personen unter 18 Jahren ist eine absolute Red Flag. Besonders gefährdet ist die in vielen Ländern verfolgte LGBTQIA+-Community.

Bei anderen Formen von Zwangsarbeit geht es um den Zugang zu Rechten. Hier findet man oft marginalisierte Gruppen, die am Tag dreizehn Stunden lang arbeiten, ihre persönlichen Dokumente abgegeben haben, die Landessprache nicht können und sich nicht zu helfen wissen.  Deshalb werden Randgruppen am häufigsten Opfer des Menschenhandels. Ein Beispiel dafür sind Personen aus Roma-Communitys in verschiedenen Teilen Europas. Aufgrund von Diskriminierung bekommen Erwachsene nur schwer Zugang zum Arbeitsmarkt und Kinder haben oft keinen sicheren Zugang zu Bildung.

 

Wie kann man Betroffenen aus ihrer Lage heraushelfen?

Man sollte wissen: Sich alleine als Privatperson einzumischen kann extrem gefährlich werden.  In Österreich gibt es eine Hotline für Menschenhandel, wie in vielen anderen Ländern auch. (Ö: +43 67761343434 ) Die Alternative dazu ist, sich an die örtliche Polizei zu wenden. Allerdings kann man mit einem Polizeieinsatz Menschen auch in Schwierigkeiten bringen, vor allem wenn kriminelle Aktivitäten involviert sind.  Die beste Option bei Unsicherheit ist, sich an NGOs zu wenden.

Als Richtlinie würde ich immer sagen, dass man bei Kindern sofort reagieren sollte. Bei älteren Teenagern und Erwachsenen ist es am besten, nicht gegen ihren Willen zu handeln und zuerst das Gespräch zu suchen und auf Hilfsorganisationen aufmerksam zu machen. Man könnte ein Telefonat mit Mitarbeiter*innen von NGOs vorschlagen ohne direkt die Polizei einzuschalten. Man muss hierbei aber immer bedenken, in welchem Land man sich befindet und dann abwägen. Je gefährlicher das Land, desto besser wäre es direkt die Polizei einzuschalten. 

 

Welche Bedeutung hat das Thema für Österreich?

In Österreich gibt es eine Reihe von Organisationen, die Betroffene unterstützen. Eine der bekanntesten ist LEFÖ, die Interventionsstelle für Frauenhandel. Es existiert auch eine eher außergewöhnlichere Organisation namens MEN VIA, die auf männliche Betroffene ausgerichtet ist. Die Organisation ECPAT setzt sich mit Kinderhandel und sexueller Ausbeutung auseinander.

Fälle von Menschenhandel, die hierzulande registriert wurden beziehen sich klarerweise meist auf sexuelle Ausbeutung. Ich habe auch schon an Projekten mitgearbeitet, die sich auf die  Ausbeutung von bettelenden Kindern aus Bulgarien oder Rumänien bezogen haben.  Ich kenne auch viele Fälle im Zusammenhang mit Zwangsarbeit von Männern, ebenfalls häufig aus osteuropäischen Ländern.

 

Gibt es Hoffnung, dass der Menschenhandel in den nächsten Jahren besiegt wird?

Ja. Seine Eliminierung ist direkt und indirekt mit unterschiedlichen Sustainable Development Goals verknüpft, die wir bis 2030 erreichen möchten. Wenn wir, zum Beispiel, sicherstellen können, dass Personen überall Zugang zu menschenwürdiger Arbeit haben, sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt beendet wird, Menschen sich sicher und frei in der Welt bewegen dürfen oder Kinder überall zur Schule gehen können, arbeiten wir auch gleichzeitig darauf hin, dass Menschenhandel bekämpft wird.

Wenn man sich die letzten Jahrzehnte ansieht, hat sich die Situation auf globaler Ebene auch tatsächlich verbessert. In Bezug auf Frauenrechte gibt es Verbesserungen: Der Rückgang der Müttersterblichkeit, Kindersterblichkeit und eine weltweit gestiegene Anzahl von Mädchen, die zur Schule gehen bzw. von Kindern im Allgemeinen. Es gibt keinen anderen Weg als dafür zu sorgen, dass alle und insbesondere Menschen aus marginalisierten Gruppen, Zugang zu all ihren Rechten erhalten. Auf diese Art können wir Ungleichheit und somit die Hauptursache von Menschenhandel bekämpfen. 

 

 

 

Bereich: 

Das könnte dich auch interessieren

Collage: Zoe Opratko
   Keine Bevölkerungsgruppe wird in...

Anmelden & Mitreden

12 + 3 =
Bitte löse die Rechnung