Mord an Özgecan Aslan: "Wir müssen die Arme hochkrempeln."

16. Februar 2015

In der Türkei hat die grausame Vergewaltigung und Ermordung der jungen Studentin Özgecan Aslan eine Welle der Empörung ausgelöst – und eine Debatte über Geschlechterbilder, Erziehungsmethoden und Moral in der türkischen Gesellschaft.


Für die deutsche Berichterstattung lässt sich die komplexe türkische Diskussion sehr leicht hinunter brechen: der Islam oder gar Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan selbst sind schuld.

Dabei würde es uns auch in Deutschland gut stehen, wenn wir dem türkischen Beispiel folgen und ernsthafte Gesellschaftskritik ausüben würden. Mich lässt diese Selbstgefälligkeit verzweifeln. Denn was Frauenrechte betrifft, sind auch wir in Europa längst nicht über dem Berg, wie vielfach impliziert wird. Wir belügen uns selbst, wenn wir das behaupten. Während wir damit beschäftigt sind, mit dem Finger auf die Türkei zu zeigen, zeigen im gleichen Augenblick drei Finger auf uns zurück.

Mir ist es fast unangenehm, diese Binsenweisheit zu teilen. Doch leider scheint es noch nicht bei allen angekommen zu sein: Gewalt an Frauen lässt sich nicht an Ländergrenzen fest machen oder gar an Religionen. Gewalt an Frauen ist ein weltweites Problem, das wir weltweit angehen müssen. Dabei müssen wir uns auch trauen, vor der eigenen Haustür zu kehren.

Es gibt viel zu tun.

99% männlich

In Italien wird alle drei Tage eine Frau von ihrem (Ex-)Mann oder (Ex-)Freund ermordet. Ehre, Liebe und Eifersucht werden als Motive genannt – und im Strafmaß mildernd berücksichtigt. Dabei wird Gewalt gegen Frauen innerhalb der italienischen Gesellschaft noch immer tabuisiert. Familienangehörige und Bekannte schweigen, die Politik nimmt sich des Themas nicht an.

In den USA ergaben repräsentative Studien, dass jede vierte Frau im Laufe ihres Lebens vergewaltigt wird, in der US-Armee erfährt gar jede dritte Soldatin sexuelle Gewalt von ihren männlichen Kollegen. Als „innermilitärische Angelegenheit“ gibt es kaum Schutz oder Gerechtigkeit für die Opfer.

Eine repräsentative Studie im Auftrag des Bundesfamilienministeriums ergab auch für Deutschland alarmierende Zahlen. Demnach hat hier jede siebte Frau sexuelle Gewalt erfahren. In der Ehe sind die Zahlen um ein vielfaches höher. Erschreckend: Jede vierte Frau erfährt häusliche Gewalt. 27 % der Frauen tragen gar schwere bis lebensbedrohliche körperliche Verletzungen davon.

Dabei macht eine höhere Bildung oder ein höherer Sozialstatus keinen Unterschied. 66 % der Täter aus der Studie des Bundesfamilienministeriums lebten in Haushalten mittlerer bis hoher Einkommenslagen. 70 % der befragten Frauen bezogen ein eigenes Einkommen, 38 % hatten ein Abitur oder einen Hochschulabschluss.

Nur zwei Eigenschaften haben fast alle Täter gemeinsam: 99 % von ihnen sind männlich und erwachsen.

Auch in der sogenannten westlichen Welt müssen wir uns also die Frage stellen, welche Werte und Rollenbilder wir vermitteln oder zumindest unkritisch  stehen lassen. In der Erziehung unserer Kinder, aber auch in der Werbe-, Musik- und Filmindustrie. Allesamt Faktoren, die in der Türkei derzeit heftig diskutiert werden.

Keine Beobachter, auch Täter!

Wunderbar zeigt auch der Sommerhit „Blurred Lines“, was Frauen aushalten sollen. „Do it like it hurt, do it like it hurt, what you don’t like work?“ oder „I know you want it“ singen die drei Männer in dem Song und implizieren: Du sollst Schmerz beim Verkehr aushalten und ich verfüge über dich auch dann, wenn du es nicht willst. Beide Phrasen aus dem Songtext werden übrigens laut Sexual-Opfern vom Project Unbreakable von Tätern während einer Vergewaltigung am häufigsten genutzt. Das unsere Jugendlichen zu diesem Song tanzen, ist geschmacklos.

Ich lehne es ab, stets auf andere zu verweisen, um nicht über eigene Missstände sprechen zu müssen. Nach dem Motto: „Aber anderswo ist es doch genau so schlecht...“ Darum muss in der Türkei sehr wohl der Fall von Özgecan Aslan analysiert, Konsequenzen gezogen und gesellschaftliche Strukturen hinterfragt werden, ohne mit einem: „Aber woanders...“ zu kommen. Die türkische Gesellschaft, aber eben auch nur sie, muss die Tragödie aufarbeiten.

Wir in Deutschland tun uns aber keinen Dienst, indem wir uns auf der Beobachterrolle ausruhen und das Thema Gewalt an Frauen von uns weg und nur anderen – anderen Traditionen, anderen Ländern, anderen Religionen – zu schieben.

Während in der Türkei diskutiert wird, müssen auch wir die Arme hoch krempeln.

Betül Ulusoy ist Juristin, Bloggerin und Referentin aus Berlin. 

 

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Kommentare

 

Finde auch, dass man vor der eigenen Haustüre kehren sollte. Gerade das Machodenken und sexuelle Belästigung scheint bei uns wieder zuzunehmen.
Aber was diese versteckte Kamera hier bei uns aufgenommen hat ist noch viel unglaublicher: http://www.youtube.com/watch?v=H0uQInTECI4 !

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