Moria ist vor meiner Haustür und heißt jetzt Lipa

24. Dezember 2020

Bihać – Das Flüchtlingslager Lipa wurde von Menschenrechtsgruppen von Beginn an wegen fehlender sanitärer Grundversorgung kritisiert. Nun wurden Zelte von einigen Flüchtlingen in Brand gesetzt. Ein Gastkommentar von Hanna Begić.


Tausend Flüchtlinge obdachlos

Genau einen Tag vor Weihnachten wurde das Flüchtlingscamp Lipa nahe Bihać geschlossen, 1300 Menschen sind nun obdachlos.  Nach tagelangem Tauziehen mit den bosnischen Behörden hat die Internationale Organisation für Migration (IOM) nun die endgültige Schließung des Flüchtlingslagers angeordnet, da es trotz des Wintereinbruchs weder Anschluss zum versprochenen Stromnetz noch zur Wasserversorgung gibt.  Als Reaktion darauf wurden Zelte seitens der Flüchtlinge in Brand gesetzt.

Das Flüchtlingscamp Lipa liegt ca. 25km von der Hauptstadt und dem Verwaltungssitz des Una-Sana Kantons entfernt und wurde im September (um dieselbe Zeit herum wie das Kara Tepe Camp oder auch Moria II auf Lesbos) errichtet, nachdem das Lager Bira, nahe der Stadtgrenze damals, durch bosnische Verwaltungsorgane geräumt wurde. Der Grund: Die tausend Migranten und Flüchtlinge, die vor Krieg, Leid und Misere geflüchtet sind, passen nach Angaben des kantonalen Parlaments nicht zum Stadtbild der Metropole Bihać mit ca. 60.000 Einwohnern.

Das Elend war vorauszusehen

Schon zu Beginn der Flüchtlingsfrage 2015 erhoben sich Stimmen im bosnischen Volk gegen die hohe Einwanderungsrate. Damals schien es eine Verwunderung zu sein, dass Menschen die Balkanrouten und vor allem die Westbalkanroute, die sich hauptsächlich auf Land befindet, als Fluchtstrecke wählten. Was in den 1960er Jahren noch als Gastarbeiterroute galt, ist jetzt eine der meist durchquertesten Fluchtstrecken. Jedoch darf hier nicht vergessen werden, dass durch die in 2013 abgehaltene Frontex Westbalkan-Konferenz, die Ostbalkanroute, die sich über die Türkei und Bulgarien erstreckt, geschlossen wurde und somit die Westbalkanroute als einigermaßen „sicherer“ Fluchtweg den Geflüchteten geblieben ist. Seither haben rund 700.000 Menschen die Balkanroute überquert, um nach Zentraleuropa zu gelangen. Die meisten Flüchtlinge kamen aus Serbien oder Montenegro nach Bosnien, um von dort aus in den EU-Mitgliedstaat Kroatien zu gelangen. Die Antwort der EU auf den Flüchtlingsstrom waren Grenzschließungen und Grenzzäune. Tausende von Migranten mussten unter erbärmlichen Bedingungen in den Grenzgebieten zu Kroatien im Freien übernachten. Wer damals in den Kroatienurlaub oder einfach zurück in die Heimat in eines der Balkanstaaten fuhr, konnte die Drahtzäune und die Unmengen von Menschen am Straßenrand, ja sogar am Autobahnrand erblicken.

Die erste große mediale Aufmerksamkeit, die Bihać zu der Flüchtlingsthematik bekam, war aufgrund vom Flüchtlingscamp Vučjak in 2019 und den menschenunwürdigen Verhältnissen dort. Das Gelände befand sich auf einer ehemaligen Mülldeponie nahe in Vučjak einem Vorort von Bihać, am Fuße des Plješevica Gebirges. Vučjak wurde zu beliebten Transitort für Geflüchtete, da sich Kroatien hinter Plješevica befindet und demzufolge der „einfachste“ Fluchtweg durch die Wälder des Gebirges lag. Die rigorosen und gewaltsamen Maßnahmen seitens der Polizei wurde nicht nur direkt auf die Flüchtlinge selbst angewendet, sondern auch auf Bihaćs Umgebung. Teile der Wälder Plješevicas wurden gerodet, um eine bessere Sicht auf die Flüchtlinge zu haben und ihnen somit den Einlass in die Festung Europa zu verwehren. Politiker und Behörden führten eine massive Anti-Flüchtlingspolitik, um ihre eigenen Fehltritte zu kaschieren. Menschen, die einst eine bessere Zukunft suchten, sind in die Realitäten des Balkans angelangt.

Moria in meinem Haus  

Mit dem Anti-Flüchtlingssentiment und der unerbittlichen Hetze gegen Geflüchtete, kamen auch unzählige Verschwörungstheorien innerhalb der Bihaćer Bevölkerung auf. „Sie wollen unsere Stadt einnehmen“ oder „Sie wollen uns verdrängen und hier ihr eigenes Revier markieren“ hieß es, als ich mit Freunden in Cafés in Bihać damals über die Lage sprach. Hier muss auch erwähnt werden, dass zu der Flüchtlingsthematik auch der Brain-Drain ein massives Problem für die nördliche Region Bosniens – zu der Bihać auch gehört – darstellt. Also stellt sich hier die Frage, wenn die jungen Bihaćer schon aus Bihać fliehen, wieso soll dann je irgendeiner in dieser Stadt bleiben wollen? Ein Gedanke, der sehr lange unausgesprochen blieb, denn ich wollte keine Brücken von dem Rassismus den ich als Österreicherin mit bosnischem Migrationshintergrund in Österreich erfahren habe zu dem Rassismus den Migranten derzeit in Bihać widerfährt, schlagen. Jedoch habe ich diese Relativierung der Xenophobie in Bihać rasch beendet, als sich immer mehr Menschen auf die Straßen begeben haben, um gegen die Einwanderung der Geflüchteten zu demonstrieren. Meine Familie selbst ist während des Bosnienkriegs aus Bihać geflüchtet, damals war es keineswegs ein Zufluchtsort.

Die Lage spitze sich immer mehr zu, man hörte immer wieder von handgreiflichen Eskalationen zwischen Einheimischen und Migranten in Gasthäusern und Cafés, Meldungen von Einbrüchen und der fremdenfeindliche Diskurs nahm sowohl in der realen als auch in der virtuellen Welt immer mehr zu. Ich möchte keiner Partei hier etwas unterstellen, sowohl die Bewohner von Bihać, als auch die Flüchtlinge selbst befinden sich derzeit in einer Notlage, nur die einen haben ein Dach über ihren Köpfen und die anderen nicht. Es ist schwierig sich hier nicht mit den Flüchtlingen in Bihać zu solidarisieren, wenn man selbst aus einer ehemaligen Flüchtlingsfamilie stammt und sich den Strapazen eines Flüchtlings bewusst ist. Es ist aber auch schwierig zu wissen, mit welchen wirtschaftlichen Verhältnissen die Familienmitglieder in Bosnien zu kämpfen haben und die bosnische Regierung durch ein blankes Nichtstun sich das Beste erhofft. Es ist schwierig, als nicht-privilegierte Person, sprich als ein flüchtender Mensch in Not, seine eigene Existenz und den Anspruch auf Bleibe und Platz zu beweisen.  Natürlich muss hier klar gesagt werden, dass einzig und allein die europäischen Großmächte und die zahlreichen Politiker, die so offenkundig ihre Augen dieser Situation verschließen, als Sündenböcke gelten. Das Moria in meinem Haus und vor eurer Haustür konnte vor Jahren umgangen werden. Grenzen auf, überall – kein Mensch ist illegal.

Begic, Hanna, Text, Bosnien, Bihać
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Zur Autorin: Hanna Begić, 21, wurde in Österreich geboren, verbrachte den Großteil ihrer Kindheit in Bihać (BiH)

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