Prijedor ´92: Die Hölle des Konzentrationslagers Trnopolje

31. Mai 2023

Morgendliche Befragungen, täglicher Missbrauch und nächtlicher Horror: Die Gefangenen des Konzentrationslager Trnopolje in Bosnien mussten 1992 durch die Hölle gehen. 31 Jahre später erinnert sich die Ex-Inhaftierte Mirsada Simchen-Kahrimanović an die Gräuel, die sie als Jugendliche im Lager erleben musste.

Von Maria Lovrić -Anuš

 „Ich frage mich immer wieder, warum wir uns eigentlich damals alle nicht umgebracht haben“, erzählt Mirsada Simchen-Kahrimanović ungläubig. Die damals 13-Jährige wurde im Mai 1992 gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer Schwester aus ihrem Heimatdorf Kozaruša im Norden Bosniens vertrieben und in das Konzentrationslager Trnopolje in Prijedor deportiert. Das ist nun 31 Jahre her. Heute erinnert sich Mirsada an die Gräueltaten, die ihr und ihrer Familie damals angetan wurden. Sie muss immer wieder Schlucken und ihre Gedanken sammeln, die Szenen hat sie noch so bildlich im Kopf, als wäre es gestern gewesen.

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Mirsada vor den Trümmern des Hauses, in dessen Keller sie sich vor 31 Jahren versteckt hatte. Foto: Privat

„Besonders schlimm war es für mich jeden Morgen ausgerufen zu werden und strammzustehen“, erinnert sich Mirsada. Der Tag im Lager begann zwischen vier und fünf Uhr. Die Gefangenen wurden einzeln aufgerufen und zu Familienangehörigen befragt. Häufig mit dem Einsetzen von Prügel oder sexuellem Missbrauch. Auch der restliche Tag war von physischer und psychischer Gewalt geprägt. So musste Mirsada jeden Tag zusehen, wie Insass:innen blutig geprügelt wurden. Diese Szenen sind ihr bis heute sehr lebhaft in Erinnerung geblieben. Die Gefangenen bekamen kein richtiges Essen und nur wenig Trinkwasser. Wer Familienmitglieder im Lager hatte, durfte für etwa eine Stunde raus, um Nahrung zu besorgen. So verließ auch Mirsadas Mutter täglich das Lager. „Ich hatte immer Angst, dass sie nicht mehr zurückkommt und die Soldaten mich als Geisel nehmen würden“, erinnert sich die heute 43-Jährige. Das besorgte Essen reichte nie aus und sie magerten genau wie die anderen Insass:innen immer stärker ab. Auch die eine vorhandene Toilette durfte erst nach Schikanen seitens der Wächter benutzt werden.

„Ethnische Säuberung“

Am 31. Mai 1992 wurde von den bosno-serbischen Behörden Prijedors in Bosnien und Herzegowina ein Dekret erlassen, das alle Nicht-Serb:innen aufforderte ihr Haus mit einem weißen Tuch zu kennzeichnen und sich beim Verlassen ihres Hauses ein weißes Band um ihren Arm zu binden. Der Genozid-Experte und Autor des Buches „Torture, Humiliate, Kill-Inside the Bosnian Serb Camp System“ Hikmet Karčić beschreibt dies als symbolischen Akt, da es an den gelben Stern aus dem zweiten Weltkrieg erinnert. Dieser Tag zeichnete den Beginn einer Vernichtungskampagne zur „ethnischen Säuberung“ des Gebiets. Durchgeführt mittels Gewalt, Vergewaltigung und Hinrichtungen in den errichteten drei Konzentrationslagern Omarska, Keraterm und Trnopolje. Insgesamt forderte diese Zeit 3167 Todesopfer, darunter 102 Kinder.

Nächte voller Angst

Bei Einbruch der Dunkelheit wurde alles noch schlimmer: „Die Nächte im Lager waren unerträglich, weil die Wächter sich immer wieder die Mädchen rausgeholt haben“, erinnert sich Mirsada. Im Lager Trnopolje, das hauptsächlich für Frauen, Kinder und ältere Männer vorgesehen war, gab es keine Elektrizität. Die Frauen saßen jede Nacht verängstigt im Dunkeln. Die Prozedur war klar: Sobald die Nacht einbrach, wurden junge Mädchen und Frauen aus dem Zimmer geholt und vergewaltigt. Wer am nächsten an der Tür saß, war besonders gefährdet. Mirsadas Mutter versuchte jede Nacht ihre Töchter zu verstecken, um sie vor dem sexuellen Missbrauch zu bewahren. Viele dieser vergewaltigten Frauen wurden schwanger und mussten diese Kinder auch austragen. „Ich versuche heute das Sprachrohr für diese Frauen zu sein, denn sie selbst haben keine Kraft dazu sich zu äußern“, so Mirsada.

Der Anfang vom Ende

Das all das passieren würde, war Mirsada zum Beginn des Krieges nicht bewusst. „Ich hatte als Kind den naiven Gedanken, dass Amerika und Deutschland gleich kommen würden, um uns zu retten“, erinnert sich Mirsada. Dieser Gedanke traf sie, während sie gemeinsam mit ihrer Mutter, ihrer Schwester und vierzig weiteren Schutzsuchenden, im Keller von ihrem Bekannten Adam ausharrte. Vor der Tür war das Kriegsfeuer bereits entfacht und im vollen Gange. Niemand durfte sprechen oder sich gar bewegen, während das Haus durch die Granaten zu vibrieren begann. „Keiner sagte ein Wort, bis es auf einmal hieß, dass wir raus müssen, um zu flüchten“. So liefen sie in der Gruppe unter ständigem Beschuss über das Kozara-Gebirge.

Die damals 13-jährige sah auf dem Weg unzählige Menschen sterben und die Patronen wie Glühwürmer durch die Luft fliegen. „Ich fragte mich, welche Unmenschen auch auf Kinder und Babys schießen würden“, sagt sie kopfschüttelnd. Auf ihrem Fluchtversuch wurden sie von serbischen Soldaten abgefangen und in das Lager verschleppt. Laut einer Bescheinigung, die sie nachträglich bekommen hatte, verbrachten sie, ihre Mutter und ihre Schwester insgesamt 25 Tage im Lager. Frauen und Kinder wurden eines Tages plötzlich entlassen und in Busse und Kutschen verfrachtet, die sie in das nächste Dorf bringen sollten. Sie durften das Lager verlassen, weil die umliegenden Gebiete bewacht waren. Der Großteil der Männer blieb noch bis zur endgültigen Schließung des Lagers im August 1992 eingesperrt.

Der Tag der weißen Bänder

Heute, 31 Jahre später, lebt Mirsada in Deutschland. Letztes Jahr erschien ihre Autobiografie „Lauf, Mädchen, lauf! – Mein Dorf in Bosnien, der Krieg und mein neues Leben“ in der sie über die Zeit im Krieg sowie vom Lager Trnopolje berichtet. Damit möchte sie der heutigen Generation die Möglichkeit geben aus der Vergangenheit zu lernen. Gemeinsam mit unzähligen anderen kämpft sie für die Erinnerungskultur: Jedes Jahr am 31. Mai findet der Gedenktag „Tag der weißen Bänder“ statt. Aus Solidarität den Opfer Prijedors gegenüber binden sich die Menschen an diesem Tag ein weißes Band um ihren Oberarm. Auf Schulen hält Mirsada im Rahmen ihrer Bildungsinitiative "Lauf, Mädchen, lauf!" auch Vorträge, um die Werte Offenheit, Verständnis und Toleranz zu fördern und den Krieg sichtbar zu machen. Für sie steht fest: Der Bosnienkrieg gehört in die Lehrbücher.

Im Gedenken an die Opfer von Prijedor 1992.

 

Lesetipp

"Lauf, Mädchen, lauf! - Mein Dorf in Bosnien, der Krieg und mein neues Leben" von Mirsada Simchen-Kahrimanović

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Foto: gestellt von Mirsada Simchen-Kahrimanović

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